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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Rikschas und klingelnde Fahrräder. Die Radelnden suchten mit der hierorts üblichen Nonchalance ihren Weg, bogen todesmutig in den Zwischenräumen wartender Autos nach rechts oder links aus. In dichten Scharen fluteten und schlurften die Fußgänger vorbei, die Straßenkehrer taten, was sie konnten, die Ärmeren sammelten den Abfall des Marktes. Aber auch die Armen waren hier nicht wirklich arm. Die Täler waren eine Kette von Flüssen und Seen, mit den freundlichen Spiegelbildern ihrer Obstgärten, Maulbeerbäume, Teeplantagen und Flachsfelder. Die Bauern brauchten den Boden nur ein wenig zu kratzen, um ihrer Ernte sicher zu sein. Die Gegend war reich, und trotz aller Steuern musste keiner verhungern.

    Baba Rajendra, der die Gemmen mit Ungeduld erwartete, begrüßte seine Besucher mit stürmischer Freude. Sein fächerförmiger Bart war mit Henna gefärbt. Der umfangreiche Bauch unter dem teuren Stoff seines Gewandes wie auch das weiche Leder seiner Pantoffeln zeigten seinen Wohlstand. Er trug zu seinen Beinkleidern Socken aus allerbester Wolle und eine Schärpe um die Taille, weil er ein chronisches Nierenleiden hatte. Sein Turban aus dottergelbem Musselin war elegant geschlungen, und er roch nach Kardamomsamen, die er zur Bekämpfung von Verdauungsstörungen zwischen den kräftigen, weißen Zähnen ständig zerkaute. Er lachte mit dem schwingenden Ton einer Bronzeglocke, ließ Tee und Süßigkeiten bringen. Für ihn gehörten Longsela und Paldor fast zur Familie. Anahita, seine Frau, war sanft und schön, mit einer Haut, so weiß und glatt wie Alabaster, und dem feuchten Blick einer Gazelle. Sie hatten fünf bereits erwachsene Kinder, drei Söhne und zwei Töchter, alle schön und klug und wohlerzogen, die in Internaten studierten. Baba Rajendra war ein treu sorgender Ehemann und ein liebevoller Vater. Daneben unterhielt er - wie er es Paldor mal in einer schwachen Stunde gestanden hatte - eine jugendliche Geliebte, die ihn viel Geld kostete. Und ob er, Paldor, nicht auch eine Geliebte hätte? Paldor hatte nur gelacht. Nein, wozu auch? Wo doch Longsela für ihn wie zehn Frauen in einer sei!
    Baba Rajendra predigte gern Moral, wobei er sich selbst dabei großzügig ausschloss.
    »Woran denken die Händler heutzutage? Nur noch an das eine: an das schnöde Geld! Billige Schnitzereien verkaufen sie als antik, sie schwatzen den Kunden falsche persische Teppiche und drittklassigen Schmuck auf. Schlimm, schlimm! So machen sie das Geschäft kaputt, und ihre Kinder und Kindeskinder werden auf der Straße betteln!«
    Die Familie bewohnte einen protzigen Neubau mit drei Badezimmern, moderner Küche und allem Komfort. Baba Rajendras
Schmuckladen aber, mitten im Basar, hatte sich den Zauber alter Zeiten bewahrt.
    Die Gemmen waren nie ausgestellt. Unter vielerlei Ehrenbezeugungen wurden die Kunden in einen Nebenraum geleitet. Baba Rajendra ließ Tee und Süßigkeiten kommen. Dann, wie ein Priester, der ein Heiligtum erschließt, drehte er den Schlüssel zu einem fest verschlossenen Schrank herum, und es kamen kleine oder größere Schmuckkästchen zum Vorschein, die er feierlich vor den Kunden öffnete.
    Nun sah Paldor geduldig und amüsiert zu, wie Longsela mit den delikaten Gesten einer Frau, die ihre Schminksachen vorbereitet, unter Baba Rajendras gierig glitzernden Augen ihre Steine hervorholte. Er legte jeden Stein in eine kleine Waagschale, prüfte das Gewicht, fasste Farbe und Maserung ins Auge und machte sich Notizen. Von draußen kamen Stimmengewirr, Lärm und Musik, Motorengeknatter. Die Rufe der Händler mischten sich in das frohe Geschrei der Schulkinder, die alle in Uniform gekleidet waren und einen Ranzen auf dem Rücken trugen. Schließlich lehnte sich Baba Rajendra zurück, schnaufte vernehmlich und wischte sich mit einem blütenweißen Taschentuch die Stirn. Ach, meinte er, finster und bedauernd, die Steine seien nicht mehr so schön wie einst. Longsela lächelte unbeeindruckt; das alte Lied war ihr vertraut. Sie wusste, dass das Feilschen begonnen hatte, dass Baba Rajendra nun die ganze Skala menschlicher Gefühle durchspielen würde. Er hatte an jedem Stein etwas auszusetzen, bemängelte dessen Qualität, mokierte sich über Form und Farbe. Er zeigte Durchtriebenheit, zähe Geduld, verschlagene Arroganz. Er stöhnte, raufte sich den Bart, beklagte sein schmales Bankkonto, die Widrigkeiten der Zeit. Longsela und Paldor gingen amüsiert auf das Theater ein, an dem alle drei ihre Freude hatten. Den Wert der

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