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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Vor ihren verwirrten Augen schienen die Wände des Zimmers in ungewohnten Winkeln ineinanderzugleiten. Longsela brach der Schweiß aus. Paldor holte einen Waschlappen und wusch ihr Gesicht ab. Dann setzte er sich zu ihr auf den Bettrand. Sie streckte wie eine Schlafwandlerin die Arme nach ihm aus.
    »Paldor, ich möchte dich etwas fragen.«
    »Ja, Longsela?«
    »Warum bin ich hier?«
    Er umarmte sie sacht, damit er ihr nicht wehtat.

    »Du bist krank gewesen. Sehr krank. Aber jetzt geht es dir besser?«
    »Bist du bei mir gewesen?«
    »Immer«, sagte er. »Jeden Tag.«
    Longsela dachte eine Weile nach. Schließlich nickte sie.
    »Ja, das habe ich gefühlt.«
    Sie schloss die Augen, mit einem Ausdruck von Glück auf dem verhärmten Gesicht, und schlief ein.
    Später kam der Arzt, besah sich die Fieberkurven, fühlte Longselas Puls und lächelte Paldor an.
    »Wir haben es geschafft. Sie wird sich erholen!«
    Longsela erkannte die Stimme des Arztes, Paldors Stimme und dazwischen auch die Stimme der Krankenschwester. Alles war so verschwommen, dass sie nicht hörte, was sie sagten. Aber die Zeitabstände, in denen sie schlief, verkürzten sich. Longselas Augen leuchteten wieder klar, die Welt nahm die scharfen Umrisse der Wirklichkeit an. Paldor fragte sich, ob sie die Kraft aufbringen würde, die entsetzlichen Nachrichten zu ertragen. Doch er schuldete ihr die Wahrheit. Vielleicht war es den starken Medikamenten zu verdanken, die Longselas Geist in einen Traumzustand versetzt hatten, dass sie den ganzen Umfang ihres Unglücks zunächst nicht erfasste. Doch mit zunehmend klarer werdendem Bewusstsein las sie in Paldor wie in einem offenen Buch. Longsela, die stets eine mutige Frau gewesen war, stellte sich den Tatsachen mit verbissener Fassung. Ihr einziger Gedanke war: nach Hause, zu den Kindern! Paldor verschwieg ihr nicht, dass alle Grenzen schon geschlossen waren und adelige Tibeter als »Feinde und Ausbeuter des Volkes« enteignet und verhaftet wurden. »Wann wird es wieder wie gestern sein?«, dachte Longsela verzweifelt. Das Fieber war vorbei, aber sie war noch sehr schwach. Bei jedem unruhigen Gedanken brach ihr der Schweiß aus.
    »Aber was geschieht mit den Kindern?«

    Paldor gelang es immer wieder, tröstende Worte für sie zu finden - Worte, an die er selbst nur halb glaubte.
    »Für die Kinder besteht keine Gefahr. Ling und An Yao kümmern sich ja um sie. Und beide arbeiten für die Regierung!«
    Longsela schüttelte matt den Kopf. Ach, warum lag ihr ein solches Gewicht auf dem Herzen?
    »Nein, Paldor, nein! Wir dürfen keine Zeit verlieren. Jeder Tag zählt!«
    Er antwortete im Zustand jener forcierten Wahnvernunft, mit der er seine Angst unter Narkose hielt.
    »Wir können nicht die übliche Passroute nehmen! Yeshe sagt, er kenne andere Wege. Aber du musst erst wieder zu Kräften kommen. Sobald du es vermagst, werden wir reisen.«
    »Wir waren zu sorglos, zu glücklich«, sagte sie mit einer Stimme, die so ganz anders war als früher, rau und schwach und sonderbar gealtert. »Wir dachten, es genüge zu leben, ohne jemandem etwas zuleide zu tun, und alles würde gut werden. Ach, was für Narren sind wir Menschen doch! Nicht wir, das Schicksal ist es, das entscheidet …«
    Er wiegte sie wie ein Kind. Ihre Haare hingen auf seiner Brust. Fast ohne es zu wissen, flüsterte er: »Ich liebe dich, ich liebe dich.« Er hatte das seltsame Gefühl, zu fallen. Wohin? In einen tiefen, Schwindel erregenden Abgrund. Ihm war, als zöge ihn die Verzweiflung in dieses dunkle Loch. Sie sprach heiser, an seiner Wange.
    »Bring mich weg, Paldor! Weg aus diesem Krankenhaus! Die Zeit rinnt uns beiden aus den Händen. Ich weiß es, ich fühle es!«
    Er stützte sie, als sie sich aufsetzte und dann auf schwankenden Beinen zu stehen versuchte. Ihre nackten, noch unsicheren Füße ergriffen Besitz von der Erde, die sie zurückholte.
    Das pavillonartige, weiß getünchte Häuschen mit seinem verwunschenen Garten bot Longsela eine Stätte der Ruhe und
Erholung. Nach indischem Geschmack glitzerten gewaltige Kronleuchter an der Decke. Die Lichtleitung war neu gelegt, aber die Elektrizität erzeugende Dieselmaschine funktionierte nur wenige Stunden am Tag. Ein Vorrat an Kerzen war immer vorhanden. Longsela, die nur ganz allmählich ihre Lichtempfindlichkeit loswurde, empfand diesen Kerzenschein als wohltuend. Die Zimmer waren klein, mit Fenstertüren, die auf schmale, schmiedeeiserne Balkone mit Sitzen hinausführten. Sobald die

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