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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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sie sich anschließen konnten. Der Abschied von den Schwiegereltern war heiter: In kurzer Zeit würden sie ja wieder in Shigatse sein und mit dem Jeep die Rückreise nach Lhasa antreten. Paldor und Longsela hofften, rechtzeitig zu Neujahr wieder in Lhasa einzutreffen. Longsela trug eine Tschuba und lange Hosen, damit sie mühelos in den Sattel steigen konnte. Ein Filzhut schützte sie vor der starken Bergsonne. Noch vor Kurzem rieben die Damen Lhasas ihre helle Haut mit Walnusssaft ein, der den Teint mit einer schwärzlichen Schicht überzog, denn keine Frau wollte braun werden. Nun aber benutzte Longsela, wie die meisten eleganten Damen, Coldcream von Pond’s und fetthaltigen Lippenstift von Elizabeth Arden. Die Gemmen waren gut verborgen; Longsela und Paldor trugen sie in Ledersäckchen unter ihren Kleidern, dicht am Körper. Die Karawane bestand aus Händlern, die in Indien ihre Ware verkauften, derbe, lustige Gesellen, die die Strecke gut kannten. Für die schmalen Bergpfade und die harten Steigungen eigneten sich Maultiere besser als Pferde, die leicht erregbar waren und vor jedem Hindernis scheuten. Maultiere liefen leichtfüßig und sicherer als das edelste Pferd, denn sie waren für solche Wege geboren. Noch war das Wetter gut, die Sicht klar. Die Karawane bewegte sich auf steinernen Pfaden, am Rande von sprudelnden Gebirgsbächen. Auf
jeder Passhöhe befanden sich »Lhartsen« - Anhäufungen von Gebetssteinen -, alte und neue Steine, flache und runde, von verschiedener Größe und Herkunft. Und immer waren, an vier langen Stangen befestigt, Gebetsfahnen gehisst, die ihren Segen in alle Himmelsrichtungen schickten. Die Gipfel waren bereits in weiße Schneedecken gehüllt, aber noch dufteten die Berge würzig nach Zedern- und Tannenluft. Dann und wann sah man Tiere: Fasane, Pfeifhasen oder Adler, die sich edel und frei im Himmelslicht herumwarfen. Und überall war die Schönheit der ersten Tage dieser Welt: das wandernde blaue Licht, das Gebirge mit seiner eigenartigen, gewalttätigen Energie, die die Menschen spüren ließ, wie klein und verletzlich sie doch waren. Doch das Licht zog seine weite Kreisbahn über die Bergriesen, und in der Luft lag eine Heiligkeit, die den Geist froh machte. Die Karawanenführer kannten alle Rastplätze; sobald es dunkelte, wurden die Zelte aufgestellt und die Kochfeuer loderten. Longsela und Paldor, in ihre Fellmäntel gehüllt, blickten in die Nacht, die wie tönendes Glas war, und hatten ihre Gedanken. Sie sahen das wechselnde Gefunkel der Sterne; und die Schwerelosigkeit, die sie aufnahm, war wie ein Hinsinken, ein Traum, ein Vorgeschmack der Ewigkeit. Einmal sagte Paldor zu Longsela: »Würdest du jetzt ganz oben auf dem Gipfel stehen, könntest du in die Tiefe des Weltraums blicken.«
    Sie fragte lächelnd, das emporgewandte Gesicht an seine Schulter gelehnt: »Ach, und was würde ich dort sehen?«
    Seine Stimme klang ernst aus der Dunkelheit heraus.
    »Ich denke, du würdest Gott sehen …«
    Später sollte Longsela noch oft an diese Worte denken. Es waren dann die Worte, die ihr Hoffnung schenkten in einer Zeit, in der sie keine mehr hatte.
    Der Abstieg nach Indien begann; weiß gefleckte Birken und finstere Tannen gingen in Rhododendronwälder über. Die Zugvögel auf dem Weg nach Süden ließen sich in den
Schluchten nieder, suchten Nahrung, ruhten sich aus. Oft waren es Tausende, hinabrieselnden Schneeflocken gleich, bevor sie in der Morgensonne ihre Schwingen spannten und weiterflogen, in unendlicher herrlicher Freiheit, der Weltkugel entlang.
    Noch war Darjeeling, von Teeplantagen und bewaldeten Bergen umgeben, ein lieblicher Anblick, freundlich und strahlend. Noch erhoben sich flügelgleich die Dächer der Tempel, Schreine und Pagoden. Noch vergoldete die Sonne die alten Kupfertore, und die Herrenhäuser zeigten wuchtige Pfeiler und Balken, von Schnitzwerk umrahmte, elegant vorspringende Balkone. Aber die Säulengänge zerfielen, in den Ziergärten wuchsen Pflanzen und Blumen dicht und wirr durcheinander. Nach Darjeeling kamen früher die Engländer zur Erholung, wenn im indischen Flachland die Hitze brütete. Doch die neue Zeit gefährdete eine Harmonie, die die Kolonialmächte sich aus klugem Eigennutz erhalten hatten. Jetzt herrschte Hochkonjunktur, die Bodenpreise stiegen, und überall wurde gebaut. Autos und Lastwagen durchrasten die Hauptstraßen. Unter einem Wirrwarr von elektrischen Leitungen stauten sich Verkehrsmittel aller Art, Lieferwagen, Handwagen,

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