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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Schatten länger wurden und die Hitze abnahm, hielt sich Longsela dort auf, sog in tiefen Zügen die Luft ein, die nach Blumen, Minze und warmer Erde duftete. Weil das Haus etwas abseits lag, wurde das Geknatter der Motoren durch das Laubwerk gedämpft. Auch das Gurren und Flügelschlagen der Tauben war lauter, selbst das Krächzen der Königskrähen fügte sich in die Ruhe gut ein. In der Nacht dann lautes Jaulen, heiseres Gebell, das vielstimmige Krähen der Hähne vor Sonnenaufgang. Und sobald die letzten Sterne müde im blauen Westen blinkten, erwachten zwitschernd die Sperlinge.
    Was geschah in Lhasa? Keiner schien etwas zu wissen. Rotchina hatte eine totale Nachrichtensperre verhängt. All India Radio gab lediglich bekannt, dass die Sender der Rebellen von Übergriffen der Volksarmee und Massenhinrichtungen berichteten.
    »Die Lage scheint sich zu verschlechtern«, sagte Baba Rajendra, der Longsela bei jedem Besuch mit gesundheitsförderndem Teepulver und Kräutermixturen versorgte. »Ich fürchte, wir werden bald Flüchtlinge hier haben.«
    Und die Flüchtlinge kamen. Abgezehrte, zerlumpte Gestalten, die Gelenke entstellt, die Zehen und Finger erfroren. Und es waren weder Adelige noch Großgrundbesitzer, sondern Bauern, die einst ein bescheidenes Anwesen ihr Eigen genannt hatten. Auch Mönche und Nonnen suchten ihr Heil in der Flucht. Viele waren misshandelt worden, einige hatte man verstümmelt oder zu Krüppeln geschlagen. Der Vormarsch
der Chinesen durch Tibet führte von einer Klosterburg zur anderen, die verwüstet, geplündert und verbrannt wurden. Die Menschen waren geflohen, um der Folter zu entgehen. Sie brachten Ungeziefer, Krankheiten, und sie waren mit Furcht und Hoffnungslosigkeit beladen. Sie alle glaubten nicht, dass sie die Heimat jemals wiedersehen würden. Sie erzählten Haarsträubendes: Tag für Tag verwüstete die Volksarmee mit Kanonen und Bomben Dörfer, Städte und Heiligtümer. Ganz Tibet war in einen blutig-roten Nebel gehüllt. Für einen chinesischen Soldaten wurden fünfzig Tibeter erschossen - als Vergeltung. In den Volkskomitees, die die Jungkommunisten in jedem eroberten Dorf sofort gründeten, wurden die Bewohner gezwungen, sich gegenseitig anzuklagen. Die Kinder mussten ihre Eltern denunzieren, die dann angespuckt und ausgepeitscht wurden. Man steckte ihnen Pferdetrensen in den Mund, und sie mussten auf allen vieren kriechen. Das Schlimmste war, wenn sie vor versammelten Nachbarn zu unzüchtigen Handlungen gezwungen wurden, der Vater mit der Tochter, die Mutter mit dem kleinen Sohn. Die Jungkommunisten hatten großen Spaß an solchen Perversionen. Mitleid war für sie ein Fremdwort. Die meisten Tibeter wussten weder, wie ihnen geschah, noch, wie es zu dem Wahnsinn und der Absurdität ihrer Lage gekommen war. Die Chinesen schlugen einen eisernen Ring um ihre Beute. Ein Zeichen an die Welt, das hieß: »Wir sind stark!« Die USA zogen ihre Schlüsse daraus. Das neue China war ihnen nicht geheuer. Die CIA flog eine Anzahl von Rebellen in die Vereinigten Staaten, wo sie in Militärschulen gedrillt wurden. Man wollte doch mal sehen, ob diese Leute zu etwas taugten. Amerika witterte Verdruss, aber Europas Intellektuelle hatten einen neuen Helden gefunden. Sein Name war Mao Tse-tung. Man hörte nicht auf, China Beifall zu klatschen und über die Besiegten zu spotten. Rotchina war der Fortschritt, die tibetische Theokratie lebte im Mittelalter. Weg also mit den verknöcherten Mönchen, den korrupten
Reichen, und Schluss mit der Ausbeutung! Auch wenn das tibetische Volk jetzt zu leiden, zu bluten und zu sterben hatte, sollte es doch, bitte schön, seine rosarote Zukunft jubelnd begrüßen.
    Eine Zeit lang versuchte Paldor, Longsela vor den schrecklichen Nachrichten zu schützen. Doch es stimmte wohl: Jeder Tag zählte. Er beriet sich mit Baba Rajendra und fasste einen Entschluss.
    »Longsela, hör zu …«
    Seit ihrer Krankheit hatte Longsela jenes innere Feuer verloren, das einst ihre Schönheit veredelte. Als Paldor zu ihr trat, lag sie auf ihrem Sofa, allein im Halbdunkel. Sie trug ein indisches Hauskleid aus mattroter Seide. Die Sonne ging unter, das Licht lag wie flüssiges Gold auf ihren Schultern und ihrem Haar. Was sie umgab, schien ein Widerschein des letzten Lichts. Longselas abgemagertes Gesicht, das die Schönheit ihrer fein geformten Knochen zeigte, rührte Paldor zu Tränen. Er setzte sich zu ihr auf das Sofa, nahm ihre Hände und hielt sie fest in den seinen. Ihre Augen

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