Das Haus der Tibeterin
Steine kannten sie ja, und am Ende waren alle zufrieden.
Doch dann kam alles anders. Seit einigen Tagen fühlte sich
Longsela gar nicht gut. Sie hatte sich auf der Reise eine Erkältung zugezogen, die sie wenig beachtet hatte. Longsela war große Temperaturunterschiede gewohnt und eigentlich nie richtig krank gewesen. Nun hatte sie starkes Kopfweh, steife Gelenke und konnte kaum noch den Nacken bewegen. Dazu bekam sie hohes Fieber. Das Fieber stieg unentwegt. Bald konnte sie kein Licht mehr ertragen, dämmerte vor sich hin oder rief den Namen der Kinder. Sie widersetzte sich kaum, als Paldor sie in ein Krankenhaus brachte, wo sie genau untersucht wurde.
Die niederschmetternde Diagnose lautete: Hirnhautentzündung. Es sei kürzlich eine Epidemie ausgebrochen, erklärte der Arzt. Die Strapazen der Reise, dazu ihre innere Unruhe, mussten Longselas Immunsystem geschwächt haben, sodass sie der Infektion keinen Widerstand bot.
Paldor erfuhr, dass die Krankheit Wochen dauern würde und Longsela daran sterben konnte. Wenn Paldor für kurze Zeit an ihr Bett durfte, lag sie im Delirium, hatte jeden Zeitbegriff verloren. Hob sie die Lider, schwammen ihre Augen und schweiften umher. Sie erkannte Paldor nur in einigen lichten Momenten und drückte seine Hand. Sprechen konnte sie nicht.
Seit Jahren hatten Paldor und Longsela Geldmittel, wenn auch geringe, nach Indien gebracht. Paldor war jetzt froh um dieses Geld. Baba Rajendra half ihm, einen Bungalow zu mieten, eine ehemalige britische Residenz, die in einem Garten lag. Kam Longsela mit dem Leben davon, musste sie mit einer längeren Rekonvaleszenz rechnen. Der Garten wirkte wie ein verschollenes Märchenreich: ein elegant geschnitztes Portal, ein kleiner Springbrunnen aus Marmor, eine Laube aus Kletterpflanzen. Der Garten, zwischen Mauer und Haus eingezwängt, atmete den süßen Duft der Kletterrosen, den Pfeffergeruch der kleinen Nelken, das starke Aroma des Jasmin. Paldor, der bisher in einem Hotel gewohnt hatte, zog in das Haus und machte
alles für Longsela bereit. »Sie wird den Garten mögen«, sagte er zu Baba Rajendra, der darauf bestand, dass aufs Allerbeste für sie gesorgt wurde. Ein Jeep und ein Chauffeur gehörten zu dem Haus. Außerdem hatte Anahita ein vertrauenswürdiges Dienstbotenpaar gefunden. Ravi und Deva kochten, wuschen Kleider und bügelten sie, machten Besorgungen und hielten das Haus in Ordnung. Wohlhabende Inder waren ständig von dienstbaren Geistern umgeben, die sie ebenso wenig beachteten wie ihre überladene Möbelpracht. Ravi und Deva ertrugen heiter ihr Los, sammelten Verdienste für ihre nächste und bessere Wiedergeburt. In einem Land, in dem menschliche Arbeit fast nichts wert war, gaben sie sich unendliche Mühe. Yeshe und Telsen würden sich jetzt nur noch um den Garten kümmern. Inzwischen gab Paldor ein Telegramm an Lhamo auf, teilte ihr mit, dass Longsela erkrankt sei und ihre Rückkehr sich verzögere. Ein zweites Telegramm ging an die Schwiegereltern. Paldor war sehr niedergeschlagen in dieser Zeit. Er brütete vor sich hin, trank Whisky, was er nie zuvor getan hatte. Der Alkohol machte ihn duselig, aber half ihm, etwas Distanz zu bewahren. Täglich ging er zu Longsela ins Krankenhaus. Sie lag in einem verdunkelten Zimmer, ihr Kreislauf war völlig herunter. Sie nahm nur etwas Flüssigkeit zu sich, ihr Gesicht wirkte abgemagert und alt. Viele Tage bekam Paldor immer die gleiche Antwort: keine Veränderung. Er solle morgen wiederkommen. Es nützte doch nichts, wenn er an ihrem Bett blieb; Longsela war ja nicht ansprechbar. Immerhin - nach drei Wochen - ein Hoffnungsschimmer: »Die Medikamente fangen allmählich an zu wirken«, sagte der Arzt, der ein Brahmane war, ein vornehmer junger Mensch mit großer mitfühlender Ausstrahlung. »Das Fieber klingt ab. Aber wir müssen Geduld haben.«
Paldor lebte im permanenten Erschöpfungszustand. Ihm war, als ob er Longselas Krankheit mit eigener Kraft zu bekämpfen hätte. Daneben beschäftigten ihn die schlechten
Nachrichten aus Tibet. All India Radio berichtete von Unruhen in der Nähe der Hauptstadt. Die Lage war konfus, fremde Korrespondenten wurden ausgewiesen, in sämtlichen Radiosendern war der Teufel los, die Sprecher gaben Berichte durch, die sich unentwegt widersprachen. »Losar«, das tibetische Neujahrsfest, kam, und Paldor, außer sich vor Verzweiflung und Sorgen, betrank sich in dieser Nacht zum ersten Mal in seinem Leben. Spät morgens wurde er von Yeshe geweckt, der ihn
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