Das Haus der Tibeterin
du nimmst Medizin für die Reichen?«
Longsela schätzte ihn auf fünfzehn. Noch ein halbes Kind also. Er hatte ein hübsches, bartloses Gesicht und schlangengleich kalte Augen. Das ist der Gefährlichste, dachte Longsela sofort.
»Medizin ist vom Doktor. Ich habe bezahlt.«
»Schande über dich, du eigensüchtige Gaunerin! Weißt du denn nicht, dass du das Volk betrügst?«
Seine jugendliche Stimme war ungehobelt, scharf, die Stimme einer fremden Idee. Er würde alles tun, um sie zu reizen. Sie durfte auf dieses Spiel nicht eingehen. Ein Wort zu viel, und alles war verloren.
»Ich … ich weiß nichts, Herr! Verzeiht …«
Er beobachtete sie ungeduldig, mit zugekniffenen Augen.
»Kannst du nicht nachdenken? Das Volk plagt sich, und du hast Geld!«
»Ich … nein. Ich bin arm«, stammelte Longsela. »Der Doktor war ein guter Mensch!«
»So, so? Ein guter Mensch?«
Longsela ließ den Kopf hängen.
»Ein sehr guter Mensch, wirklich ein sehr guter Mensch …«
Der jugendliche Chinese wandte sich von ihr ab, schaute in die Runde.
»Schrecklich sind diese Lügner, man sieht in sie hinein!« Alle lachten. Der Chinese drehte sich auf dem Absatz um, geschmeidig, als ob er tanzte, und blieb mit elegantem Schwung vor Yeshe stehen. Der starrte fassungslos auf die gelenkigen Finger, die jetzt den Hahn der Pistole spannten. Der junge Soldat lächelte.
»Sei ruhig, wir tun dir nichts, Alter. Das ist kein Krieg, das ist eine Befreiung. Das Volk leidet Hunger, und bei euch ist noch so viel da zum Wegnehmen. Das ist die Schuld einer Handvoll, die immer von der Sklaverei der anderen lebt. Liebst du die Fron, alter Mann? Nun sag es endlich!«
»Was … was soll ich sagen, Herr?«, stotterte Yeshe, der von alldem kein Wort verstand.
»Wo du die Maultiere gestohlen hast, du Dummkopf!«, schrie ihn der Chinese an.
Die Antwort stieg mühsam in Yeshes Kehle auf.
»Ich habe gearbeitet, Herr. Die Maultiere gehören mir.«
Der junge Mann vollführte mit seiner Maschinenpistole eine theatralische Geste, die den armen Yeshe vollkommen einschüchterte.
»Alter Mann, die Maultiere gehören dir nicht. Die Maultiere gehören dem Volk.«
Er steigerte sich in eine Erregung hinein, die sich austoben wollte. Eine solche Erregung war völlig unkontrollierbar. Aber er verfolgte einen Zweck dabei. Longsela bemerkte es daran, wie die anderen zusahen, amüsiert und verschlagen. Sie machte einen letzten, verzweifelten Versuch.
»Unsere Maultiere sind stark und gesund. Wir tauschen Maultiere gegen Passierschein.«
Da wirbelte der junge Soldat kreischend herum.
»Kein Wort mehr! Das alles hier ist Diebesgut und wird beschlagnahmt.«
Longsela sank der Mut. Jetzt würden sie zu Fuß gehen müssen, ohne Proviant, ohne Decken. Aber sie trug noch einige
Geldscheine im Saum ihrer Tschuba und meinte, dass sie im nächsten Dorf vielleicht neue Maultiere würden erstehen können. Schon verneigte sie sich demütig, doch da machte Telsen einen Fehler. Er liebte sein Maultier, das sehr klug und gutwillig war, und wollte es nicht verlieren. Als der junge Soldat nach den Zügeln griff, fuhr Telsens Hand unwillkürlich nach der verborgenen Waffe. Blitzartig hob der Chinese den Lauf seiner Maschinenpistole.
»Telsen, nein!«
Longselas verzweifelter Aufschrei erreichte sein Bewusstsein zu spät. Im Zentrum eines flüchtigen, düsteren Atemzugs sah Telsen die auf ihn gerichtete schwarze Mündung. Und wusste, dass er in seinen Tod schaute. Das Krachen des Schusses ließ Longsela zurücktaumeln und das Maultier erschrocken auf die Seite springen. Die Kugel traf Telsen unter dem Brustbein und trat seitlich unter dem Herzen wieder aus seinem Körper. Er sank mit einer schwerfälligen Drehung zu Boden. In dem Augenblick, da er die Erde berührte, war sein Leben schon erloschen. Sein Blut floss in den Sand. Longsela und Yeshe starrten auf Telsen, der flach auf dem Gesicht lag. Der junge Soldat drehte ihn mit einem Fußtritt um, schlug den Fellmantel zurück, brachte die Pistole zum Vorschein. Er brach in schrilles Gelächter aus, bevor er Telsen mit mehreren Schüssen aus dieser Pistole, die immer geladen war, den Schädel zertrümmerte. Yeshe schrie heiser auf, wollte sich auf ihn stürzen, doch im Nu waren die Soldaten von allen Seiten über ihm. Longsela sah Yeshe auf dem Boden liegend und, die Wange auf die Steine gedrückt, versuchend, sich mit der Schulter hochzustemmen, woran ihn die Männer immer wieder durch Fußtritte und Kolbenschläge hinderten.
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