Das Haus der Tibeterin
war das Reich des ewigen Windes, der sengenden Sonne, des Todes. Und die Gipfel, die diese Mondsteppe umschlossen, die gewaltigsten Gipfel der Erde, waren, von dieser Höhe aus gesehen, nur Hügel. Längst versiegte Wasserläufe zogen wie Handlinien nach allen Seiten aus. Früher - als noch keine Menschen die Erde bevölkerten - musste hier ein Grasland gewesen sein, und es hatte Wasser gegeben für unbekannte Tiere. Die Erde barg noch ihre Knochen und Wirbel, mit Steinen vermischt, selbst zu Gestein geworden. Und während sie den Hang hinunterkletterten, Absatz um Absatz, dachte Longsela, dass vielleicht eines Tages die ganze Erde, steinverkrustet und windüberzogen, sich einsam im Weltall drehen würde, unzählige Zeitalter lang …
Den Abstieg schafften sie ohne Zwischenfall, die letzten Felsen hinter sich lassend. Nun dehnte sich das Hochtal vor ihnen aus, flimmernd in weißlicher Hitze. Zwischen beiden Hügelketten gab es keinen Schatten, sodass das flache Gestade ohne Grenzen zu sein schien. Die Maultiere gingen langsam dahin, Schritt für Schritt. Ihre Flanken waren trocken, der Schweiß
verdunstete sofort. Mehrmals hielten sie an, tranken aus der Feldflasche und rieben die Tiere mit einem nassen Tuch ab. Der ewige Wind wirbelte den Sand auf, brannte in den Augen, heulte und sang mit der Stimme der Geister und Dämonen. So verging die Zeit, und bald konnten die Reiter kaum noch denken. Die Müdigkeit hielt sie umschlossen. Sie spürten nur noch, wie die Maultiere die Beine bewegten. Die Hitze drang unter die Haut und stach wie mit Dornen, erstickte sie beinahe. Doch allmählich wuchsen die Bergzüge auf beiden Seiten zusammen, bildeten weit weg eine Art Trichter, der das Ende des Hochtals anzeigte. Sie ritten darauf zu, als Telsen plötzlich die Zügel zog und auf Reifenspuren deutete, die kreuz und quer vor ihnen im Sand verliefen. Longsela sah blinzelnd hin, ungläubig und verstört.
»Geländewagen!«
»Herrin«, krächzte Yeshe, »das kann nicht sein!«
Von den Bannstrahlen der Sonne geblendet, von Hitzeschleiern umweht, entdeckten sie erst jetzt in der Ferne zwei dunkle Flecken, offenkundig Bunker, und Gestalten davor, die sich bewegten. Ein Kontrollposten! Die Entfernung verkleinerte die Männer zu Gnomen, mit winzigem Haupt und mit Beinen, die sich auf sonderbare Weise verkürzten oder verlängerten. Yeshe schüttelte den Kopf, als ob er sie für eine Erscheinung hielt, ausgebrütet von den bösen Geistern der Hitze. Denn Yeshe war auf Treu und Glauben davon überzeugt gewesen, dass dieser Weg frei und unbewacht war!
»Hier reiten doch nur die Rebellen!«, stammelte er kopflos.
»Die Chinesen machen Erkundungsflüge«, sagte Longsela.
Ein Kribbeln der Angst kroch an ihnen hinauf, von den Füßen bis zum Herzen, zu den Lippen und der bleischweren Zunge. Sie saßen in der Falle. Sie hatten sich selbst in die Falle begeben.
»Kehren wir um!« Yeshes erschöpfte Stimme zitterte. »Weg von hier, bevor sie uns sehen!«
»Sie haben Feldstecher«, antwortete Longsela mit bitterem Zorn. »Und sie werden uns mit den Wagen verfolgen.«
Es war zu spät. Umkehren, das würde heißen, dass die Soldaten Jagd auf sie machten und sie wie Freiwild erschossen. Longselas Gedanken überschlugen sich. Nimm dich zusammen. Setz deinen Weg fort! Du hast eine Chance. Longselas Kleider waren schmutzig, ihre Stiefel ausgetreten. Ihr Haar war staubig, ihre Haut braun gebrannt. Während ihrer Streifzüge im Gebirge hatte sie die Dialekte der Bauern gehört und traute sich wohl zu, ihren Tonfall nachzuahmen. Viele Bauern besaßen auch noch keinen Pass. Die chinesischen Behörden hatten erst begonnen, welche auszuteilen. Longsela zögerte nicht länger.
»Sie dürfen unsere Pässe nicht finden. Weg damit, schnell!«
Longsela ging selbst mit dem Beispiel voran.
»Du bist mein Mann«, fuhr sie fort, an Yeshe gewandt. »Telsen ist unser Sohn. Wir sind Bauern und haben unsere Ware in Bhutan verkauft. Wir werden Schmiergeld zahlen müssen. Darauf warten sie ja nur. Seid still und lasst mich reden! Und was auch immer sie sagen, schaut ihnen nicht in die Augen. Auf keinen Fall!«
Yeshe und Telsen nickten in schweigender, verzweifelter Zustimmung. Longsela stieß ihrem Maultier die Fersen in die Flanken. Sie ritten weiter, den Reifenspuren entlang, die wie Fäden eines Spinnennetzes auf dem trockenen Boden ihre Muster zogen. Longsela fühlte sich in diesem Spinnennetz gefangen, doch bot sie ihre ganz Willenskraft auf,
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