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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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gedacht, dass sie auf dieser Reise den Tod finden könnte. Und sie hatte zu sich selbst gesagt: »Wenn es so bestimmt ist, dann wird es eben eintreffen.« Doch nie hatte sie daran gedacht, dass sie lebendig und tot gleichzeitig sein könnte. Sie kauerte mit Unbekannten in einer Finsternis voller Gerüche von Schweiß, Blut, Krankheit und Ausscheidungen. Sie hörte fremde Atemzüge, fremde Körpergeräusche. Gewiss sollte das, was hier erduldet werden musste, jeden Widerstand brechen. Alle warteten auf den Lastwagen, der sie irgendwohin bringen würde - in ein Arbeitslager, meinten die Gefangenen. Aber wie sollten sie in ihrem Zustand von Schwäche noch zu irgendeiner Arbeit fähig sein?
    Trotzdem war alles, was diese Menschen empfanden oder argwöhnten, durch das Warten auf den Lastwagen bedingt. Er konnte jetzt gleich kommen oder morgen oder erst in zehn Tagen. Alle saßen oder lagen still, lauschten auf die Stimmen
und Geräusche von draußen, sprachen nur wenig. Ein Mönch erzählte, dass die Chinesen systematisch alle Klöster zerstörten, die den Rebellen Obdach gaben. Longsela sagte leise, ja, sie hätte es mit eigenen Augen gesehen. Mehr sagte sie nicht. Ihre Gedanken befassten sich unentwegt mit den Kindern. Wenn sie jetzt umkam, was dann? Sie würden nie erfahren, wie die Eltern gestorben waren. Was sollte aus ihnen werden? Wer nahm sich ihrer an? Würden Ling und An Yao ihr Versprechen halten? Waren sie überhaupt noch in der Lage dazu?
    In der ersten Zeit verspürte Longsela großen Hunger und Durst, danach immer weniger. Die Finsternis klebte vor ihren Augen, vor ihrem Gesicht. Sie lernte, ihre Notdurft zu verrichten, ohne dass sie Scham vor den anderen empfand, die ja das Gleiche taten, sodass der Boden feucht und glitschig war. Die meisten saßen still, schonten ihre Kräfte. Es gab aber auch einige, die schrien und um sich schlugen, sodass jene, die Vernunft bewahrten, sie beruhigen und festhalten mussten. Zum Schlafen war kaum Platz. Die Gefangenen schliefen der Reihe nach, wobei diejenigen, die wach blieben, zusammenrückten, die Knie bis ans Kinn, sodass ihre Unglücksgefährten liegen konnten. Dann plötzlich - Longsela hatte bereits jedes Zeitgefühl verloren - hörten sie draußen Stimmen, Schritte, zorniges Geschrei. Das Kettenschloss rasselte, blendende Helligkeit flammte auf, zwei Männer taumelten herein. Dem einen - Longsela sah es kurz - floss Blut übers Gesicht. Schon schlug die Tür wieder zu. Der Verletzte stürzte der Länge nach hin, man fing ihn auf, und Longsela nahm seinen Kopf auf ihre Knie. Sein Gefährte, ein völlig verstörter junger Bauer, erzählte, der Verwundete sei sein Onkel, der es gewagt hätte, einem Soldaten zu widersprechen, worauf ihn dieser mit Kolbenschlägen zu Boden streckte. Der Mann wimmerte, seine Arme und Beine zuckten in krampfartigen Bewegungen. Als Longsela mit sanften Fingern über die Wunde tastete, fühlte sie den gebrochenen Schädelknochen. Sie wusste, dass der Mann sterben
würde. Dies geschah auch bald, und Longsela spürte, wie der Verletzte in ihren Armen schwer und kalt wurde. Es war der zweite Sterbende, den sie in den Tod streichelte. Sie versuchte in ihrem Kopf auszurechnen, wie viel Zeit wohl vergangen war, und brachte es nicht fertig, weil die Verrückte unentwegt kreischte und lachte. Longsela fühlte sich selbst nahe dabei, den Verstand zu verlieren. Sie war nicht die Einzige. Rutschen und krabbeln, mehr konnten die Gefangenen nicht. Manche, noch nicht ganz am Ende ihrer Kraft, hämmerten an die Tür, schrien um Hilfe, bettelten und flehten. Sie versuchten, unter Aufbietung der allerletzten schwachen Kräfte, ein Loch zu vergrößern, indem sie mit ihren Nägeln den Betonstaub loskratzten. Sie tasteten, fühlten, klopften, als ob sie eine Bewegung in der Mauer spüren und die Steine sich lockern könnten. Ihre Nägel brachen, sie rissen sich ihre Hände wund. Sie verausgabten sich vollends dabei, sinnlos, bis zur Erschöpfung.
    »Meine Kinder«, sagte die Nonne einmal sehr sanft, »wovor habt ihr solche Angst?«
    Sie hieß Ani Yudrön. Ihr wahres Alter kannte sie nicht, doch sie war vollkommen ruhig, ohne Furcht.
    »Vorm Sterben natürlich«, schluchzte eine Frau.
    »Das ist nicht recht«, sagte die Nonne.
    »Du bist alt und hast es leicht!«, rief ein Mann. »Ich - ich will nicht sterben.«
    »Fürchte nicht dein Ende«, sagte die Nonne. »Denn in dieser Furcht, in ihr allein, zeigt sich der Tod.«
    Wieder verging Zeit, und Sonderbares

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