Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
Vom Netzwerk:
unterdrückte ihre Angst. Lügen? Sich verstellen? Das war eine Sache, die sie nie gelernt hatte. Hier aber war ihre Freiheit, ja sogar ihr Leben der Preis. Ihre Lügen waren, sie wusste es im Voraus, die unumgängliche Voraussetzung ihres Überlebens. Sie ritten näher und sahen, dass die Chinesen zwei kleinere Betonbauten errichtet hatten, dass der Beton bereits im schlechten Zustand war. Beton hielt sich schlecht in diesem Klima, wo Häuser aus
getrockneten Lehmziegeln sich besser bewährten. Seltsam, dass die Chinesen das noch nicht bemerkt hatten! Zwei Soldaten, mit Feldstecher und schussbereiten Maschinenpistolen, warteten vor der Sperre. Im Schatten waren da noch einige andere Gestalten in Uniform. Unter einem Holzgerüst standen zwei Geländewagen. Daneben, in der prallen Sonne, waren einige entsetzlich magere Maultiere angebunden. Sie waren mit eiternden Geschwüren bedeckt, an denen die Fliegen klebten, und sahen aus, als hätten sie seit Tagen weder Wasser noch Futter erhalten. Aber Longsela konnte nirgendwohin blicken als auf die zwei Männer, die ihre Schusswaffen hoben. Sie hielt ihr Maultier an. Ein Soldat stapfte ihr entgegen, packte die Zügel. Er war ein großer, gut gewachsener Nordchinese.
    »Los, absteigen!«
    Longsela sah an ihm vorbei, gehorchte schweigend. Yeshe und Telsen taten es ihr nach. Longsela sah an dem Mann vorbei zu Boden, sodass ihr Blick an seinen staubigen Stiefeln haften blieb. Die Abdrücke der genagelten Sohlen waren überall. Vor Longselas inneren Augen tauchten Bilder auf, die sie nicht sehen wollte. Ihr Mund war voller bitterer Spucke.
    »Du, Frau, wohin gehst du?«, fragte sie der Wächter in schlechtem Tibetisch. »Hier ist Militärgebiet.«
    Longsela erinnerte sich an die wenigen Worte Chinesisch, die sie kannte.
    »M’chi … das wussten wir nicht.«
    »Wo kommst du her, Frau?«
    Longsela nannte ein kleines Dorf südöstlich von Lhasa, das sie kannte.
    »Und wer sind die beiden da?«
    »Mann und erster Sohn.«
    »Wo ist dein Passierschein?«
    Longsela hörte ihre eigene Stimme, die fremd und auf eine absurde Weise demütig klang.
    »Passierschein? M’chi!«

    »Du brauchst einen Passierschein, Frau.«
    »Ich kaufe Passierschein«, sagte Longsela. »Für Mann und Sohn auch.«
    Der zweite Soldat winkte mit seiner Maschinenpistole.
    »Los, Gepäck zeigen!«
    Der Mann sah ziemlich gut aus und trug auch das Haar länger. Er lächelte, nicht ein frostiges Lächeln, sondern auf eine freundliche und amüsierte Art. Longsela erfasste eine große Abneigung gegen dieses Lächeln.
    Die Männer ließen es nicht zu, dass Yeshe und Telsen die Gepäcktaschen selbst öffneten, sondern stießen sie auf die Seite, indem sie ihnen die Mündung der Pistolen in den Rücken drückten. Jetzt kamen auch die anderen Soldaten dazu. Longsela sah mit angstverzerrter Miene zu, wie sie in ihren Bündeln und Taschen wühlten, ihre Essvorräte auspackten. Ja, sie schüttelten sogar die Futtersäcke der Maultiere aus - auf der Suche nach Schmuggelware, nahm Longsela an. Sie sagte kein Wort, hielt die Schultern gebeugt, starrte zu Boden. Die Soldaten würden sie ausrauben und dann vielleicht durchlassen. Doch ein Würgen stieg in ihrer Kehle auf, als die Chinesen ihren Nescafé entdeckten, die Dose öffneten und das Aroma gierig einzogen. Bauern tranken Tee, keinen Pulverkaffee. Während die Dose von Hand zu Hand ging, versuchte Longsela mit einer Spitzfindigkeit daraus Nutzen zu ziehen, wie eine Bauersfrau es auch getan hätte. Sie trat einen Schritt vor.
    »Kriege ich dafür Reisepass?«
    Die Männer lachten; sie lachten auf eine Art, die Longsela eine Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Doch da fragte der Nordchinese, der einen besonnenen Eindruck machte, mit plötzlicher Schärfe: »Was ist das, Frau?«
    Er hielt eine kleine Schachtel in der Hand, die er misstrauisch öffnete und schüttelte. Kleine weiße Tabletten fielen in seine Handfläche. Es waren die Medikamente, auf
die Longsela jetzt angewiesen war. Vorsicht, Geduld, dachte Longsela. Ich habe schon genug riskiert. Ihr Herz hämmerte jetzt so laut, dass ihr ganzer Brustkorb davon erschüttert wurde.
    »Herr, Erbarmen!«, jammerte sie. »Ich bin krank.«
    Der Soldat zerrieb eine Tablette zwischen den Fingern, schnupperte daran.
    »Opium!«, sagte er in angewidertem Tonfall.
    Longsela deutete unterwürfige Verbeugungen an.
    »Nein, nein, Herr! Kein Opium. Medizin gegen Kopfweh.«
    Ein ganz junger Soldat sah sie unverschämt an.
    »Wie,

Weitere Kostenlose Bücher