Das Haus der Tibeterin
Nun, der Tote selbst würde nichts dagegen haben. »Windbestattung« nannten sie den heiligen Vorgang, wenn die Vögel den Verstorbenen in den Himmel trugen. Und so sprach Longsela ein letztes Gebet für ihn, bevor sie sich abwandte und mit ihren Begleitern diesen Ort verließ.
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
D ie Nacht kam, und sie kam schnell. Doch Longsela und ihre Begleiter wollten nicht an einem Ort verweilen, an dem die ganze Landschaft und die Luft selbst derart mit Schmerz belastet waren, dass dieser Schmerz an den Menschen haftete und ihnen das Mark aus den Knochen verzehrte. So ritten sie bergan, bis es völlig dunkel war und sie eine Höhlung im Gestein entdeckten, wo sie rasten konnten. Auch die Maultiere fanden hier einen kleinen Streifen Gras. Yeshe und Telsen schliefen bald ein, doch Longsela lag wach. Ihre Gedanken bewegten sich zwar, aber ihr Urteilsvermögen funktionierte nicht mehr. Ihr schien, dass in ihrem Kopf kein Gehirn mehr war, sondern nur noch ein schwach zuckender, dunkler Klumpen. Was sie gesehen hatte, übertraf alle ihre früheren Vorstellungen. Jetzt endlich wusste sie, warum die Tibeter zu Tausenden flohen. Was hatten die Chinesen aus Tibet gemacht? Die Hölle auf Erden! Und doch sah sie mit einer fast erschreckenden Freude, wie klar die Sterne leuchteten. Und sie erkannte mit einem Schlag die trostlose Vergeudung dieser Himmelspracht. Longsela hatte es bisher nicht wirklich begriffen. Die Toten schauten sie an, mit Augen, die manchmal nur rote Höhlen waren. Aber je stärker Longsela an ihrem Glauben festhielt, je mutiger sie ihr lebendiges Leben lebte, umso tatkräftiger erfüllte sie ihre menschliche Pflicht, und die Toten segneten sie.
Als sie im Morgengrauen ihre Maultiere sattelten, sagte Yeshe sorgenvoll zu ihr: »Herrin, du hast zu wenig geschlafen.
Das ist nicht gut. Heute kommt eine beschwerliche Strecke.«
»Kennst du den Weg?«, fragte Longsela.
»Ich nicht, Herrin, nein. Aber ich hörte manches. Für alte Leute und Kinder ist er nicht gemacht. Es ist der Weg der Schwarzhändler. Die Rebellen benutzen ihn, um ihre Kämpfer mit Waffen aus Indien zu versorgen. Mönche auch, wenn sie heilige Schriften und Tempelschätze in Sicherheit bringen.«
»Wohin führt der Weg?«, fragte Longsela. »Noch höher durchs Gebirge?«
»Ja, der Hang ist sehr steil, die Tiere werden klettern müssen. Danach kommt eine Passebene, auf der kein Baum wächst. Dann müssen wir durch ein Loch in einer Felswand, das noch gefährlicher ist. Und dann sind es noch drei Tage bis nach Lhasa.«
Longsela warf die Zügel um ihr Handgelenk, setzte den Fuß in den Steigbügel. Telsen half ihr beim Aufsteigen. Sie setzte ihre dunkle Brille auf, zog den Gürtel ihrer Tschuba straffer.
»Reiten wir!«
Und wahrhaftig war es, als sollten die Reiter erst an diesem Tag erfahren, wie unerbittlich und grausam die Berge für jene sein konnten, die nicht in ihnen heimisch waren. Steine, die plötzlich unter dem Fuß der Maultiere wegrutschten, Pfade, kaum breit genug für einen Menschen, geschweige denn für ein Maultier. Ein Stolpern, eine falsche Bewegung, ein unsicherer Schritt … und schon packte das Unglück zu! Die aufwärts kletternden Maultiere bewegten sich unter einem Himmel, der unwirklich blau und rosa war, über ein Nebelmeer, das langsam verdunstete. Die Reiter, von der durchdringenden Kälte steif geworden, hingen keuchend im Sattel, und jeder Schritt, jede Erschütterung ging wie ein Stoß durch ihre Knochen. Um sich im Gleichgewicht zu halten, hatten sie die Beine in den Steigbügeln verwickelt und lagen mit dem Gesicht auf der klebrigen Mähne der Tiere, deren Hals sie umklammerten.
Auf diese Weise kletterten sie den Berghang hinauf, bis sie endlich das Hochtal erreichten. Hier blieben die Maultiere stehen, mit zitternden Beinen und keuchenden Flanken. Die Reiter dankten ihnen, rieben sie trocken und banden ihnen für eine Weile den Futtersack um.
»Sie haben schrecklichen Hunger!«, sagte Telsen.
Longsela nickte ihm zu.
»Und wie tapfer sie sind!«
Doch zum Ausruhen blieb keine Zeit. Sie mussten über das Hochtal, bevor die Sonne die Luft in Gluthitze verwandelte. Ein Wind, der seit Jahrtausenden mit aller Macht gegen die Gipfel trieb, hatte alle Steine zu einer Art grobkörniger Asche zermalmt. Hier wuchsen nicht einmal Flechtpflanzen. Kein Wesen fand man hier, nicht einmal einen Käfer. Es war, als ob diese Ebene, in fünftausend Metern Höhe, nicht mehr zur Welt der Lebenden gehörte. Sie
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