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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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geschah. Longselas Wahrnehmung veränderte sich. Die Menschen im Verlies verschwammen, es gab keine Geräusche mehr. Der Gedanke überfiel sie, dass hier vielleicht nur eine Verdichtung der Luft bestand, was alle Gerüche zum Gären brachte. Gelegentlich empfand sie ein Wärmegefühl im Rücken, was sie veranlasste, sich umzudrehen und die Verdichtung zu berühren. Sie spürte dann eine Bewegung, und es kam ihr in den Sinn,
dass es doch Menschen sein konnten. Offenbar empfanden die anderen wie sie. Eine Zeit lang hatten sie noch kraftlos und vergeblich gewütet. Die Niederlage war ganz allmählich eingetreten, alle wurden davon erfasst. Jede Bewegung kostete zu viel Anstrengung. Einen Finger zu regen ging über Menschenkraft. Die Gefangenen konnten nur noch still liegen oder kauern. Sie warteten und wussten nicht mehr, worauf. Sie klebten am Boden, wie festgewachsen in ihrem eigenen Dreck. Die Luft war erfüllt vom Kratzen und Rasseln ihrer Lungen. Über diese Geräusche von Atem und Schleim hob sich in singendem Tonfall, zärtlich und weich, die Stimme der Nonne, deren Gesicht Longsela nie gesehen hatte. Ihre Stimme hing in der Finsternis, zwischen Irresein und Tod, wie ein schimmernder Faden, der sie mit dem Leben verband.
    »Erleuchteter, blicke mit Mitgefühl auf uns.
    Befreie uns von unserem Leiden, gewähre uns deinen Segen.
    Blicke auch mit Mitgefühl auf unsere Feinde.
    Seien wir nicht hasserfüllt gegen sie.
    Lass uns Mitgefühl aufbringen für jene, die uns Schmerzen zufügen.
    Sie brauchen dieses Mitgefühl mehr, als wir es brauchen.
    Denn der Engel ist nahe und bringt uns Erlösung.
    Wir sterben in Frieden und nicht im Zorn.«
    Die Stimme war genau der Dimension der Zelle angepasst, sodass die Möglichkeit, sie zu überhören, einfach nicht aufkam. Longsela fand das alles ganz vernünftig, das kleine Verlies und die hier versammelten Menschen, die einander so nötig brauchten! Was sie auch ihr Leben lang getan hatten, auch falsche, auch hässliche Dinge, am Ende konnten sie nur noch das Richtige tun: sich gegenseitig helfen und trösten. Ja, die Zukunft war der Tod, aber der Tod, von dem sich keiner mehr abwandte, würde sie neu erschaffen, wie am Anfang der Zeit. Nur noch ein wenig Geduld jetzt! Bald würde er in Gestalt
des Engels erscheinen, der das Morgenlicht in den Augen trug …
    Ja, der Engel würde kommen, barmherzig und wunderschön, mit goldenen Flügeln. In Longselas Kopf zuckten Bilder auf, sprangen von Gedanken zu Gedanken, und Stimmen redeten. Der Engel war auf dem Weg, er kam, er war ganz nahe. Schon vernahm Longsela das Donnern der Wolken, die seine Füße trugen, ihn näher brachten mit jedem Flügelschlag. Und da schrie eine Stimme: »Der Lastwagen kommt!«
    Eine andere Stimme schrie es auch, und noch eine und noch eine. Ja, es war der Lastwagen. Vollkommen unerwartet war er eingetroffen. Longsela konnte hören, wie er auf den Steinen rumpelte, wie der brummende Motor abgestellt wurde und die Soldaten die Ankommenden jubelnd begrüßten. Und da wurde es im Verlies totenstill. Die Lungen flogen, die Herzen pochten. Denn selbst die Erleichterung, dass der Lastwagen sie endlich holen kam, ja, selbst dieser Trost war mit Schrecken behaftet. Und alle schwiegen, denn sie glaubten wohl zu wissen, dass das, was sie nun erwartete, mindestens ebenso schlimm oder schlimmer sein mochte als all das, was sie bisher durchgemacht hatten. Und in dieser Stille geschah es. Himmel und Erde barsten, die Welt zerfiel in Stücke, stürzte zusammen, zerplatzte, wie Felsen zerplatzen. Ein schreckliches Getöse, ohrenbetäubend, haarsträubend! Das Prasseln von Maschinengewehren, das Jaulen einschlagender Kugeln, das kurze, dumpfe Dröhnen geschleuderter Granaten. Und dazwischen Schreie in grauenhafter Qual, Schreie ohne Ende. Bei jeder Explosion war es, als ob die Mauern sich hoben. Mörtel rieselte herab, Stöße erschütterten den Boden. Das dauerte, dauerte endlos, bis eine Stimme nach der anderen erstarb und Brand- und Pulvergeruch durch Ritzen und Löcher drang. Die Gefangenen husteten, röchelten, brachen in Tränen oder in Zittern aus, unfähig zu sprechen oder sich nur aufzurichten. Nun ertönten andere Stimmen, die Befehle riefen. Longsela
wusste, dass er gleich kommen würde, der Engel ihres letzten Tages. Und da rasselte auch schon die Kette, und die Tür sprang auf. Longsela sah eine Gestalt. Es war der Engel, den sie erwartet hatte. Er stand oder schwebte im Gegenlicht, und sie konnte sein Antlitz

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