Das Haus der Tibeterin
Im gleichen Augenblick setzte der Nordchinese Longsela seine Pistolenmündung an den Kopf.
»Mitkommen!«, sagte er barsch, aber ruhig.
Longsela blickte zu ihm empor, und da erschien er ihr plötzlich zweimal so groß wie ein Mensch. Und gleichzeitig sah sie
sich selbst von außen, sah sich zurückweichen und in die Richtung gehen, die der Soldat ihr wies. Wehrlos musste sie miterleben, dass ihr Körper sich vor diesem Mann erniedrigte, dass sie in beschämender Ergebenheit tat, was er sagte. Von irgendwoher schlug eine Angst von solch unerträglicher Wucht auf sie ein, dass sie darin versank. Und als ob sie sich das Bild in der Fantasie ausmalte, sah sie, wie zwei Soldaten Yeshe an den Armen zu einer der Betonbauten schleiften, dessen Tür mit einem Kettenschloss versehen war. Yeshes Lippen waren aufgeplatzt, sein Gesicht voller Blutergüsse. Später sollte sich Longsela noch oft fragen, warum sie ihn am Leben gelassen hatten. Vielleicht doch nur deswegen, weil er ein alter Mann war. Schon zog ein Soldat das rasselnde Kettenschloss auf. Sein genagelter Schuh krachte gegen die Tür, die quietschend aufsprang. Ein Kolbenschlag warf Longsela kopfvoran in das Loch. Ein Gestank nach menschlicher Ausdünstung, nach Kot und Urin schlug ihr entgegen. Im Lichtspalt, der aus der offenen Tür fiel, sah sie Männer und Frauen, alte Leute und Mönche, erkennbar an ihren geschorenen Köpfen, an ihren Roben. Sie kauerten dicht zusammengepfercht, einige lagen erschöpft am Boden. Inzwischen packten die Soldaten Yeshe unter den Armen, hoben ihn hoch und schleuderten ihn Longsela in den Rücken. Sie verlor das Gleichgewicht, stürzte schwer nach vorn auf Hände und Knie und versuchte sich greifend hochzuziehen. Sie spürte den Aufprall ihres Körpers und Gesichts gegen Stoff, Haar, Fleisch. Die im Dunkeln kauernden Menschen fielen gegeneinander, rutschten zur Seite und hielten dann Longsela fest, sodass sie sich unbeholfen aufrichten konnte. Immer noch auf dem kalten Boden kniend, wandte sie sich tastend nach Yeshe um. Und da schlug die Tür zu.
DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
D ie Kette rasselte; die Schritte und die Stimmen entfernten sich. Das undurchdringliche Dunkel erweckte in Longsela den Eindruck, sehr weit weg, tief unter der Erde zu sein. Lebendig begraben. Panik flammte in ihr auf, wie Zunder, wenn der Funken in trockenes Stroh fällt. Als ob jemand eine Ofentür geöffnet und wieder geschlossen hätte. Doch Longsela wusste ja, dass sie nicht allein war. Sie hörte gepresste Atemzüge, Kratzen, Flüstern, ein trockenes Husten, ein Reiben von Soff, ein Scharren von Füßen. Wie viele Menschen mochten sich hier befinden? Sie hörte auch, wie Yeshe hinter ihr schluchzte. Sein Schmerz brachte sie wieder zu Verstand. Steif wandte sie sich nach ihm um, nahm ihn in ihre Arme, wiegte ihn, als ob er nicht ein alter Mann, sondern ein Kind wäre, das sie trösten musste. So verging eine Weile, bis im Dunkeln eine sanfte Stimme erklang.
»Wen haben sie getötet, meine Tochter?«
Aus der Anrede merkte Longsela, dass eine Nonne zu ihr sprach. Mühsam fand sie ihre Stimme wieder.
»Einen jungen Mann. Achtzehn Jahre alt.«
»Und warum?«
»Weil er … sein Maultier nicht hergeben wollte.«
»Ja«, sagte die Nonne. »Wer sich wehrt, wird erschossen. Die anderen sperren sie ein. Sie sagen, wir müssten auf den Lastwagen warten.«
»Und was wird dann aus uns?«
Diesmal war es eine männliche Stimme, die antwortete. Sie hörte sich gebildet an, klang mutlos und erschöpft.
»Wir wissen es nicht. Sie nehmen uns alle Lebensmittel weg. Die Maultiere schlachten sie. In Tibet herrscht Hungersnot. Die Menschen essen das Gras auf den Feldern. Die Soldaten sagen, die Vorräte sind für das Volk.«
»Nein, die Vorräte sind für die Soldaten!«, rief eine Frauenstimme heiser. »Für uns haben sie nicht einmal Wasser übrig! Sie nennen uns Blutsauger. Und wir sollten unser eigenes Blut trinken! Ist das nicht zum Lachen?«
Ihr Gelächter stieg auf, zunächst erstickt, fast wie ein Schluchzen, dann wild und kreischend. Das Lachen erschreckte Longsela fast noch mehr als das andere.
»Sie ist nicht mehr ganz bei Verstand«, sagte der Mann, während die Nonne besänftigend zu der Irren sprach.
»Lass es gut sein, meine Tochter. Du weißt doch, sie sagen solche Dinge …«
Das Lachen erstarb zu einem Wimmern. Die Verrückte zog mehrmals die Nase hoch und schwieg. Die Gefangenen hatten keine Kraft mehr, lange zu sprechen. Longsela hatte oft
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