Das Haus der toten Mädchen
diesem See zu schwimmen – dazu hatte er sich noch immer nicht durchringen können.
Er betrachtete die schüchterne kleine Frau. Ihr verdrießlicher Gatte hat ihr sicher wenig Trost gespendet, als sie ihre Tochter verlor, vermutete er. Es kam ihm so vor, als habe ihr nie irgendjemand oder irgendetwas im Leben viel Trost gespendet.
Er zermarterte sich das Hirn, um sich an irgendwelche Einzelheiten über die Familie zu erinnern, an die er anknüpfen konnte. Kings gab es in Colby seit dem achtzehnten Jahrhundert, aber im zwanzigsten Jahrhundert war nicht mehr viel von ihnen übrig. „Leben Sie schon lange hier?“ fragte er beiläufig.
„Mein Mann hat mich angewiesen, nicht mit Ihnen zu sprechen“, nuschelte die Frau und schrubbte weiter. Das Wachstuch nahm ihr die energische Behandlung übel und riss; sie stieß einen Klagelaut aus.
„Sich zu unterhalten ist keine Sünde, Mrs. King“, entgegnete er. „Und machen Sie sich keine Gedanken wegen des Tischtuchs. Sie erwähnten es ja bereits: Es muss ersetzt werden.“
Sie schaute zu ihm auf, und in ihrem Blick lag eine tiefe Sorge, die ihn für einen Moment an seinem Plan zweifeln ließ. Doch dann riss er sich zusammen.
„Ich rede nicht mit Fremden, Mr. Smith. Ich misstraue ihnen“, erklärte sie. „Ich habe mein ganzes Leben in Colby verbracht und kenne alle Leute, die ich kennen muss.“
„In Ordnung, Ma’am“, beruhigte er sie. Der Kaffee war fertig, und er schenkte sich eine Tasse ein, schwarz, wie er ihn mochte. Sie war eine harte Nuss, und er glaubte nicht, dass er ihr viel würde entlocken können. Er konnte sich ebenso gut auf die Veranda setzen und dort in Ruhe seinen Kaffee trinken – in
relativer
Ruhe, denn hinter dem Haus schwang inzwischen jemand seinen Hammer, und von den Nachbarn drang noch immer der Lärm der Kettensäge herüber.
Er nahm einen letzten Anlauf. „Sie haben einen braven Sohn, Mrs. King“, begann er, während er zur Fliegengittertür hinüberging, die kaum noch in ihren Angeln hing. „Es muss schön sein, den Nachwuchs noch um sich zu haben, wenn er erwachsen ist. Haben Sie noch mehr Kinder?“
Ihre Reaktion machte ihm wieder klar, was für ein Arschloch er eigentlich war. Ihr müdes Gesicht legte sich einen Moment in Falten, und ihre milchig blauen Augen füllten sich mit Tränen. „Er ist der Einzige, den Gott uns geschenkt hat“, antwortete sie.
Er brachte es nicht über sich, weiter in sie zu dringen. Vor Gericht hatte er stets als unbarmherziger Gegner gegolten: Er konnte jeden Zeugen, so sehr dieser auch präpariert sein mochte oder von der Wahrhaftigkeit seiner Aussage überzeugt war, binnen weniger Minuten total demontieren. Aber einer müden alten Frau, die wahrlich genug gelitten hatte, wollte er das nicht antun. So ein Schweinehund war er nun doch nicht – zumindest nicht an diesem friedlichen Vormittag im August. Ein andermal vielleicht.
Fürs Erste sollte er lieber dafür sorgen, dass in seinem Schlafzimmer nichts Verräterisches mehr herumlag, sobald King oder sein Sohn dort oben herumspazierten. Es konnte zu nichts Gutem führen, wenn sie dort auf ganze Stapel von Literatur über Serienmörder im Allgemeinen und die Colby-Morde im Besonderen stießen.
Er stellte seine Kaffeetasse auf den Endpfosten des Treppengeländers und nahm jeweils zwei Stufen mit einem Schritt.
Im ersten Augenblick hatte er den Eindruck, dass er im Obergeschoss allein war, und atmete erleichtert auf. Doch dann sah er Perley King, wie er mitten im Zimmer stand und mit verwirrter Miene auf den Notizblock starrte, den Griffin auf dem Bett hatte liegen lassen.
Shit, dachte Griffin entsetzt, jetzt bin ich aufgeschmissen. Er räusperte sich und durchkämmte sein Gehirn nach einer halbwegs plausiblen Erklärung.
8. KAPITEL
„W as tun Sie hier?“ fragte Griffin. Der Angesprochene lief puterrot an und ließ das Notizbuch aufs Bett fallen.
„I…ich h…habe nichts Schlimmes getan“, stammelte er. „Ich gucke mir nur gerade die Wasserflecken am Kamin an, wie mein Vater es mir aufgetragen hat.“
„Indem Sie in meinen privaten Unterlagen herumschnüffeln?“
„Kann ich nicht“, murmelte der Mann.
„Was können Sie nicht?“
„Kann nicht lesen“, erwiderte er mit langsamer, ausdrucksloser Stimme. „Habs nie wirklich gebraucht. Pa meint, ich komme auch so zurecht. Ich kann meinen Namen schreiben.“
„Na, das ist ja fein“, antwortete Griffin. Er durchquerte das Zimmer und nahm das Notizbuch an sich. Es war bei der
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