Das Haus der toten Mädchen
nach Vermont gezogen und hatte das riesige alte Haus ihrer Träume gekauft, um es in ein Bed and Breakfast zu verwandeln. Sie hatte unermüdlich gearbeitet, und ihre Bemühungen trugen endlich erste Früchte. Und plötzlich wollte sie ihr Paradies nicht mehr mit einem Haufen zahlender Gäste teilen, die dem Ort durch ihre Anwesenheit seinen zauberhaften Frieden raubten.
„Hab dich nicht so“, murmelte sie und zwang sich, die Augen nicht wieder zu öffnen.
Im Leben wird einem nun mal nichts geschenkt. Dir ist nie irgendetwas auf einem silbernen Tablett serviert worden.
Die einzige Möglichkeit, an diesem friedlichen Plätzchen am Ende der Welt zu leben, die einzige Chance, so ein altes Haus zu unterhalten und darüber hinaus ihre Mutter und ihre Schwester zu unterstützen, war die Zimmervermietung. Ob sie diese Leute nun hier haben wollte oder nicht.
Sie hörte ein Geräusch und konnte es im ersten Moment nicht richtig einordnen. Es war nur ein zartes Klicken, irgendwo von unten. Sie schlief in einem der Zimmer an der Vorderseite, die zum See hinaus gingen; sobald die Gäste eintrafen, würde sie es natürlich räumen müssen. Für ein Zimmer mit Seeblick würden die Kunden mehr zahlen, und Sophie konnte es sich nicht leisten, auf das Geld zu verzichten. Direkt unterhalb ihres offenen Fensters lag die breite Veranda, und plötzlich erkannte sie, was sie gehört hatte: den Riegel der Haustür.
Sie rappelte sich auf und öffnete so leise wie möglich ihre Zimmertür. Einen Augenblick lang stand sie regungslos im Flur und fragte sich, ob sie nicht der größte Trottel der Welt war: Wie die Heldin in einem Schauerroman schlich sie, nur mit einem Nachthemd bekleidet, durch die Finsternis, in der sich womöglich ein Killer herumtrieb.
Natürlich trieb sich hier kein Killer herum. Sie hatte sich nur von den lästigen Reminiszenzen an diese längst abgehakten Todesfälle ins Bockshorn jagen lassen. Der Junge war geschnappt worden, und auch wenn man ihn später wieder hatte laufen lassen müssen, so waren sich doch die meisten Leute sicher, dass er der Täter war.
Obwohl ihr unerwünschter Nachbar wahrscheinlich irgendeine andere Theorie verfolgte. Warum sonst schnüffelte er hier herum?
Nein, es war viel wahrscheinlicher, dass Marty oder Grace durchs Haus schlichen – Marty vielleicht auf der Pirsch nach Zigaretten oder Jungs. Vielleicht war Patrick Laflamme doch nicht so unnahbar, wie Marge ihn geschildert hatte.
Sie öffnete Martys Tür, deren Angeln sie zum Glück kürzlich geölt hatte, nur einen Spalt weit und lugte hinein. Marty lag ausgestreckt auf ihrem Bett, ihr fuchsienrotes Haar leuchtete auf dem Kissen, und ihr Gesicht wirkte im Schlaf ganz unschuldig. Einen Augenblick konnte sich Sophie nicht vom Fleck bewegen, so sehr rührte sie die nostalgische Erinnerung an jene Zeiten, als dieser rebellische Teenager noch ein Kind gewesen war. Die süße kleine Schwester, die Sophie stets geliebt hatte und die sie hatte beschützen wollen. Der Tod ihrer Eltern hatte Marty hart getroffen, aber Sophie hatte ihr Bestes getan, die Lücke zu schließen und ihr ein Zuhause und Geborgenheit zu geben. Sie nun so schlafen zu sehen, ohne die Maske, hinter der sie sich tagsüber verbarg, erinnerte Sophie daran, wie sehr sie dieses Mädchen liebte. Und es zeigte ihr auch, dass Marty Gott sei Dank nicht im Geräteschuppen war und sich dort mit Patrick vergnügte. Und den Spinnen. Und den Gespenstern.
Wie seltsam, dass Grace das gesagt hatte. Es wäre schlimm, wenn sie jetzt auch noch anfing, Geister zu sehen. Sophie würde sie äußerst ungern in ein Pflegeheim stecken: Sie fühlte sich für Grace verantwortlich und würde sich zu Hause um sie kümmern, solange es eben möglich war. Aber eine alte Dame mit Wahnvorstellungen unter all den vornehmen Gästen – wie sollte das gehen?
Sophie schloss vorsichtig die Tür und stieg langsam die Treppe hinunter, wobei sie die siebte Stufe sorgsam mied, die noch immer knarrte, obwohl sie schon alles Mögliche versucht hatte. Und tatsächlich stand Grace’ Tür sperrangelweit offen, und ihr zerwühltes Bett lag leer im Mondschein.
Sophie zögerte nicht lange. Sie griff nach einer Taschenlampe und einem Umhängetuch, das sie über einen Sessel drapiert hatte, und trat in die feuchte Nachtluft hinaus.
Der Mond war hinter einer Wolke verschwunden. Vom See stieg Dunst auf und legte sich über die abschüssige Wiese wie eine Samtdecke. Sie richtete den Strahl der Lampe auf den Wald, aber
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