Das Haus der toten Mädchen
das Licht wurde von den Nebelschwaden einfach verschluckt, und sie entdeckte keine Spur von einem Menschen.
Sie konnte nicht länger warten. Ihre Mutter war bestimmt wieder auf dem Weg zum Whitten-Cottage: Irgendwie hatte sie einen Narren an dem Haus gefressen. Oder an Mr. Smith, obwohl Sophie sich das nicht vorstellen konnte. Diese spezielle Schwäche schien bisher nur Grace’ sonst so vernünftige Tochter befallen zu haben.
Sie stürzte sich in den Wald, bahnte sich ihren Weg durch den Farn und die Schößlinge und ließ sich vom Nebel verschlucken. Die Luft war kühl und feucht, fast schon klamm, und Sophie wickelte das Tuch enger um sich. Wenigstens trug sie anständige Baumwollnachthemden, nicht diese minimalistischen, Stoff sparenden Pyjamas, die Marty bevorzugte, oder solche verführerischen Seidenroben, wie Grace sie gemocht hatte. Sie fror noch immer, wahrscheinlich weil sie barfuß lief, aber sie war entschlossen, ihre herumstreunende Mutter einzuholen, bevor sie ihren geheimnisvollen Nachbarn würde wecken können. Das Letzte, was sie wollte, war eine weitere mitternächtliche Begegnung mit diesem Mann. Schon gar nicht nach dem Kuss von heute Nachmittag. Im Moment wollte sie wirklich nur ihre Ruhe.
Sie konnte immer noch nach Hause umkehren und Doc anrufen. Er würde herkommen, Grace suchen und sich zwischen Sophie und Mr. Smith stellen, wenn es zu einer Konfrontation käme. Aber was, wenn Grace in die entgegengesetzte Richtung gelaufen war? Konnte Sophie es sich leisten, Zeit zu verschwenden?
Nein, es musste das Whitten-Grundstück sein. Sophie hatte Grace schon so oft dort gefunden, wie sie auf der Veranda des leeren Hauses saß und vor sich hin summte. Ihre Mutter schien von dem alten Haus fasziniert zu sein – und neuerdings leider auch von dem Mann, der es angemietet hatte. Wenn sie einen Mitternachtsspaziergang unternahm, dann dorthin.
Das Whitten-Cottage stand auf einer kleinen Lichtung zwischen hoch aufragenden Weymouthskiefern, und das Mondlicht, das nun wieder zwischen den Stämmen hindurchschien, fiel auf den wabernden Bodennebel. Die Schwaden wirkten fast wie ein Lebewesen. Wie ein riesiges, schwerfälliges Tier, irgendein seltsames Zauberwesen aus einem alten Märchen, das sich um das Cottage wand. Das Haus war dunkel, aber die Vordertür stand offen, und Sophie stieß einen leisen Fluch aus. Sie kam zu spät.
Oder auch nicht. Es brannte kein Licht: Offenbar hatte Grace den Bewohner noch nicht aufgeweckt. Noch bestand die Hoffnung, dass Sophie hinein- und mit ihrer Mutter wieder hinausschlüpfen konnte, ohne dass Smith überhaupt bemerkte, dass seine Privatsphäre schon wieder nicht respektiert worden war.
Die Veranda knarrte unter ihren nackten Füßen. Sie schlich auf Zehenspitzen zur Gittertür, zog sie auf und spähte ins Haus.
„Ma?“ flüsterte sie. Grace mochte zwar ein Gedächtnis wie ein Sieb haben und allmählich den Verstand verlieren, aber schwerhörig war sie nicht. Wenn sie da war, würde sie Sophie hören. „Grace, bist du da drin?“
Da sie niemanden sah und sich nichts rührte, betrat sie das Haus und blinzelte in die Dunkelheit. Sofort stieg ihr der Geruch in die Nase, dieser unverwechselbare Duft alter Hölzer und Lacke und des Sees, kombiniert mit dem Aroma frischen Sägemehls. Sie atmete tief ein und versuchte, das aufwallende Verlangen niederzuringen. Dieses Haus sollte mir gehören, dachte Sophie neidisch.
Und dann erinnerte sie sich, warum sie hier war. Und wer da oben schlief. „Ma?“ wisperte sie, diesmal lauter.
Sie wagte es nicht, die schmale Stiege zum Obergeschoss hinaufzugehen. Sie spielte ohnehin schon mit dem Feuer, und Grace neigte nicht dazu, sich mucksmäuschenstill zu verstecken. Sophie hätte längst etwas von ihr hören müssen. Sie versuchte es ein letztes Mal. „Grace?“ rief sie gedämpft.
„Sie ist nicht hier.“
Sophie stieß einen spitzen Schrei aus. Smith hatte sich aus dem Nichts heraus materialisiert und ragte nun in der Dunkelheit vor ihr auf. Zwischen ihr und der Tür. „Was tun Sie hier?“ fragte sie ihn mit panikerstickter Stimme.
„Ich wohne hier, wenn Sie sich daran erinnern“, gab er unwirsch zurück. „Und Ihre Mutter hat sich heute Nacht hier nicht blicken lassen. Wie kommen Sie darauf, dass sie hier sein müsste?“
„Sie ist weg.“ Als ob es nicht schon übel genug wäre, mitten in der Nacht in seinem Haus zu stehen mit nichts als einem Nachthemd am Leib, machte die Dunkelheit alles noch schlimmer.
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