Das Haus der toten Mädchen
sie so etwas noch nie gesehen. Vielleicht war Doc ja zu Ohren gekommen, dass jemand so ein Messer verloren hatte, dann konnte er es dem rechtmäßigen Eigentümer wiedergeben. Und dabei vielleicht sogar herausfinden, wie es zu Grace gelangt war und warum sie es in ihrer Kommode versteckt hatte.
Das war wirklich kein Grund, sich Sorgen zu machen. Ebenso wenig wie Martys Interesse an dem neuen Gärtner. Marge hatte ihr versichert, dass Patrick Laflamme gegen solche Plagen immun war. Er hielt sich im Geiste schon fast wieder im College auf und war viel zu zielstrebig, um sich von einem jungen Ding ablenken zu lassen, das nichts als Ärger verhieß. Außerdem hatte er eine strenge französisch-kanadische Mutter, die ihn an der kurzen Leine hielt.
Sophie hatte die Situation also unter Kontrolle. Das Gasthaus war so gut wie fertig, alles nahm seinen geplanten Lauf. Was bedrückte sie bloß?
Sie wusste natürlich sehr wohl, was mit ihr im Argen lag – sie wollte nur nicht daran denken. Es ließ sich in einem Wort zusammenfassen – genauer, in zwei Worten: John Smith.
Warum in aller Welt hatte er sie so geküsst? Und warum ging ihr dieser Kerl nicht mehr aus dem Kopf? Es war ja nicht so, dass sie noch nie geküsst worden wäre. Auf ihrer langen, vergeblichen Suche nach demjenigen, für den sie gerne ihre ganzen Bedenken in den Wind schlagen wollte, hatte sie eine ganze Reihe Männer geküsst. Man konnte wirklich nicht sagen, dass sie es nicht versucht hätte. In der Hoffnung, einer werde sich in einen Prinzen verwandeln, hatte sie reichlich Frösche geknutscht. Und Frösche waren sie alle geblieben.
Auch John Smith – oder wie auch immer er wirklich hieß. Was fiel ihm eigentlich ein, sie so zu packen? Was, um Himmels willen, hatte ihn zu der Annahme verleitet, ihr könne das gefallen? Hatte sie unwissentlich erotische Signale ausgesendet? Höchst unwahrscheinlich. Vielleicht war er einfach egozentrisch genug zu glauben,
jede
Frau wolle ihn küssen, einschließlich derer, die ihm ihre Abneigung deutlich zu verstehen gaben …
Hatte sie das getan? War sie kühl und unfreundlich gewesen? Das hatte sie zumindest versucht. Die Frage war nur: warum? Warum brachte John Smith ihre schlechtesten Seiten ans Licht?
Vielleicht, weil er ein Lügner war. Wenn er John Smith hieß, dann war sie Madonna. Lügner konnte sie nicht ausstehen.
Außerdem hatte er diese höchst unangenehme Angewohnheit, so zu tun, als durchschaue er sie restlos. Als durchdringe sein Blick die Rüschen und Blümchen, die Marmeladen und Kuchen und all ihre Entspannungsrituale. Als erkenne er in ihrem Inneren ein kleines, verängstigtes Etwas, das sie doch so gerne vergessen hätte. Und sie wollte nicht, dass ein anderer es bemerkte, schon gar nicht dieser unmögliche John Smith.
Sie ließ sich wieder auf die Matratze gleiten und versuchte, die Augen zu schließen. Mondlicht und Schatten tanzten wieder durch den Raum, und einen Augenblick lang verwünschte sie ihre genaue Beobachtungsgabe. Die Fenster brauchten entweder richtige Läden oder schwere Gardinen. Bis jetzt hatte sie es immer genossen, frühmorgens von der Sonne geweckt zu werden, und dass der Vollmond sie manchmal kurz aus dem Schlaf riss, hatte sie noch nie gestört.
Bis heute Nacht. Jetzt lag sie wach und lauschte jedem Knacken und Ächzen, das dieses alte Haus von sich gab. Sie hatte sich an die Geräusche gewöhnt, ja, sie hörte sie gerne. Sie erinnerten sie an das Schnurren eines Kätzchens. Ihr altes Haus redete mit ihr, stimmte ihr zu, verkündete ihr, dass sie hier willkommen war.
Heute Nacht schien das Gasthaus unruhig zu sein und ihr zusetzen zu wollen. Wie dumm, dachte Sophie,
ich
bin unruhig. Nervös wegen der bevorstehenden Eröffnung, voller Sorge um die Familie, besorgt auch wegen dieses Störenfrieds, dessen Küsse ganz sicher nichts mit Liebe auf den ersten Blick zu tun hatten – oder auch nur mit flüchtiger Zuneigung. Er hatte ihr klar zu verstehen gegeben, dass er sie ebenso unmöglich fand wie sie ihn.
Warum also hatte er sie geküsst?
Und wann würde sie endlich wieder einschlafen? Vor ihr lag ein langer Tag: Sie musste das Bettengeschäft in Burlington wegen der Matratzenlieferung anrufen, und irgendwann in den nächsten zwei Tagen stand ihnen der Bauinspektor ins Haus, und früher oder später musste sie auch die Software installieren und zum Laufen bringen: alles, bevor die ersten Feriengäste ihre Zimmer bezogen.
Und vielleicht war das des Pudels Kern: Sie war
Weitere Kostenlose Bücher