Das Haus der toten Mädchen
wenn sie mit ihm in die Stadt fuhr, würde er sie bestimmt wieder ausfragen und zur Rede stellen.
Nein, sie blieb besser hier. Mal sehen, ob sie diesen Miesepeter noch einmal zum Lächeln bringen konnte. Und ob sie es schaffte, ihn aus dem Blickfeld des großen Hauses zu locken.
Das Buch war verschwunden.
Eine der seltsamen Veränderungen, die mit Grace’ Krankheit einhergingen, war ihr eigentümlicher Ordnungssinn. Früher hatte bei Grace immer Chaos geherrscht: Ihre Kleidung hatte überall auf dem Boden herumgelegen; wo sie ging und stand, hatte sie eine Spur aus Papieren und Schals und sonstigem Kleinkram hinterlassen; Betten machen hatte sie als Zeitverschwendung empfunden, da man doch ohnehin am Abend wieder schlafen ging. Tatsächlich hatte Sophie erst gelernt, wie man sein Bett machte, als sie bei ihrem Vater und Eloise in deren aufgeräumtem Haus in Michigan gewohnt hatte, weil ihre Mutter wieder einmal in der Weltgeschichte herumgegondelt war. Manchmal hatte sie den Verdacht, dass ihr fast zwanghaftes Interesse an allem Hausfraulichen ihre spezielle Form der Auflehnung gegen ihre unstete Mutter war, aber andererseits klang diese Erklärung zu trivial. Sie wusste nur eins genau: Apfelgelee und Himbeermarmelade einzuwecken verschaffte ihr unweigerlich ein Gefühl der Sicherheit und der Behaglichkeit, und altes Porzellan war Balsam für ihre Seele.
Sophie hatte wirklich nicht vorgehabt, Grace’ Zimmer zu durchsuchen. Sie hatte nur schnell das wundersam wieder aufgetauchte Exemplar von „Mord im Northeast Kingdom“ stibitzen wollen. Es hätte auf Grace’ ordentlich gemachtem Bett liegen sollen oder auf dem Bücherturm, der fein säuberlich daneben aufgestapelt war.
Aber es war nicht da.
Auch im Regal, in dem die Bücher strikt nach Größe sortiert waren, fand sich zwischen all den Ted Bundys und Boston Stranglers vom Vermont-Killer keine Spur. Sophie warf sogar einen Blick unters Bett, aber da war nichts – nicht einmal das kleinste Flusenknäuel. Als sie die Schränke öffnete, fühlte sie sich an die Grace von früher erinnert: Die Kleidung lag in Haufen auf den Böden oder hing an Haken statt an Bügeln, und ihre Schuhe starrten vor eingetrocknetem Schlamm.
Nachdenklich schloss Sophie die Zimmertür von innen. Wann war Grace auf schlammigen Wegen spazieren gegangen? Das hätte ihr doch auffallen müssen, so, wie sie über Grace wachte. Bisher hatte sie geglaubt, der barfüßige Ausflug zu ihrem unwirschen Nachbarn sei eine Ausnahme gewesen. Also, wann war ihre Mutter durch Schlamm gestapft? Und warum?
Sie lehnte sich gegen die geschlossene Tür und schaute sich im Zimmer um, als lägen die Antworten dort irgendwo herum. Die Fenster standen offen, und sie konnte hören, wie Grace sich auf der Veranda mit sanfter Stimme von Doc verabschiedete. Gleich wird sie hereinkommen und mich dabei ertappen, wie ich ihr Zimmer durchstöbere, dachte Sophie. Plötzlich schämte sie sich für ihr Verhalten. Wenn sie das Buch lesen wollte, konnte sie ihre Mutter doch einfach fragen.
Dummerweise war das Buch verschwunden, und Grace würde sich nicht daran erinnern, wo sie es hingelegt hatte.
Der eigenen Mutter nachzuspionieren hat etwas zutiefst Unwürdiges, überlegte Sophie, während sie so leise wie möglich die Schubladen der Kommode aufzog. Natürlich diente es Grace’ Sicherheit, und doch fühlte es sich falsch an. Was hoffte sie hier eigentlich zu finden? Sie hatte aufgehört, nach dem Buch zu suchen. Wenn sie es unbedingt lesen wollte, konnte sie es wahrscheinlich online bestellen. Der einzige Grund, sich überhaupt für diese alten Mordfälle zu interessieren, war, dass dieser seltsame John Smith sich damit befasste. Warum also durchwühlte sie die Schubladen ihrer Mutter?
Sie fühlte sich an den Inhalt des Schranks erinnert: Die Schubladen waren mit allem Möglichen voll gestopft. Die teure Spitzenwäsche, die Grace immer gerne getragen hatte, lag zwischen den schlichten Baumwollhöschen, die Sophie angeschafft hatte, weil sie leichter zu waschen waren. Auch hier war das Taschenbuch nicht versteckt, und Sophie hatte nun wirklich Schwierigkeiten, ihre Durchsuchungsaktion vor sich selbst zu rechtfertigen.
Bis sie das Messer fand.
Er würde für ihre Seelen beten, dachte er mit gesenktem Haupt. Seine wahre Bestimmung lag nun klar vor ihm, und es gab kein Entrinnen vor seiner traurigen Pflicht, so Leid es ihm auch tat. Das Gute musste obsiegen und das Böse zugrunde gehen, sonst hätte das Leben
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