Das Haus der toten Mädchen
reden.“ Mit zutiefst verstörter Miene ergriff sie Grace’ Hände.
„Natürlich, Mama. Was bedrückt dich?“ Sophie versuchte, möglichst sanft und beruhigend zu klingen.
„Rede nicht mit mir, als ob ich nicht bei Trost wäre!“ giftete Grace sie an. Es war das erste Mal seit Monaten, dass sie so in Rage geriet. „Du musst mir vertrauen. Ich weiß, dass ich eine schusselige alte Zicke bin, aber ich bin längst nicht so übergeschnappt, wie du glaubst.“
„Ich halte dich nicht für übergeschnappt.“
„Aber natürlich. Das wollte ich ja auch so. Ich hatte gehofft, dass ich dich so beschützen könnte, aber jetzt ist es damit aus. Es ist schon fast zu spät. Er wird dich umbringen. Wahrscheinlich will er uns alle töten.“
„Wovon redest du, Mama?“ Shit, Doc hatte Recht, was die Wahnvorstellungen anging. Grace verlor den Bezug zur Realität.
„Doc. Er ist ein Mörder. Er bringt Frauen um, Sophie. Es war nicht der Junge, den sie damals verurteilt haben, es war Doc, der sie umgebracht hat. Alle drei. Und noch viel mehr Mädchen.“
„Warum sollte Doc Leute umbringen, Grace?“ fragte Sophie sanft. „Er macht sie gesund, und er ist der netteste Mann auf Erden.“
„Den Grund kenne ich nicht“, gab Grace trotzig zurück. „Ich weiß nur, dass er versuchen wird, dich umzubringen, und zwar bald.“
„Und
woher
weißt du das?“
„Die Blumen.“
Sophie wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. Wie konnte es mit ihrer Mutter nur so schnell bergab gehen? „Ich werde die Blumen wegtun“, sagte sie geduldig. „Dann werden wir zu Abend essen und hinterher einen heißen Tee trinken, und wenn Doc wiederkommt, kannst du dich bei ihm erkundigen, ob er mich wirklich ermorden will …“
„Nein!“ kreischte Grace. „Du darfst ihn nicht ins Haus lassen, Sophie. Du darfst ihm nicht trauen. Wo ist Marty? Er wird sie auch umbringen, das weiß ich. Und mich. Er muss mich zum Schweigen bringen, damit ich nicht allen die Wahrheit sage. Obwohl mir natürlich niemand glauben würde. Sogar meine eigene Tochter hält mich für eine durchgedrehte alte Nudel.“
„Ich halte dich nicht für durchgedreht, Mama“, entgegnete Sophie. „Ich denke nur, dass du dich zu sehr aufgeregt hast, und jetzt musst du dich beruhigen. Niemand möchte mich töten, niemand will hier
irgendwen
töten.“
„Ich kann es dir beweisen“, verkündete Grace mit schriller und verzweifelter Stimme. „Ich habe Notizen gemacht, Seiten voller Notizen, die ohne jeden Zweifel zeigen, dass ich Recht habe. Ich habe sie in meinem Zimmer versteckt. Lass sie mich schnell holen …“
„Was beweisen?“ fragte Doc mit ruhiger und besänftigender Stimme. Er stand direkt hinter dem Fliegengitter auf der Veranda. Sophie hatte sein Auto nicht kommen hören, so sehr hatte Grace’ Besorgnis erregender Zustand sie mit Beschlag belegt. Er musste Rima nur schnell ins Haus gebracht und dann sofort kehrtgemacht haben. Gott sei Dank, dachte Sophie.
„Grace macht sich Sorgen, dass …“, setzte sie an, aber Grace fiel ihr ins Wort, bevor sie den Satz beenden konnte.
„Ich habe Angst, dass der Auflauf vergiftet ist“, meinte Grace. „Ich glaube, in diesem Haus wohnen Geister, die uns etwas antun wollen. Vertreiben Sie die bösen Geister, Doc. Ich fürchte mich so vor ihnen.“ Grace’ kurzer Anflug von paranoider Klarheit war vorüber, und nun sah sie wie ein verängstigtes, Mitleid erregendes Kind aus.
„Ich werde mich darum kümmern, Grace“, beruhigte er sie. „Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, damit Sie schlafen können, und ich werde bei Ihnen bleiben, so dass Ihnen niemand etwas tun kann. Wie finden Sie das?“
Offenbar hatte Grace ihre Fantasien von vorhin gänzlich vergessen. „Würden Sie das tun, Doc? Versprechen Sie mir, dass Sie die ganze Nacht neben meinem Bett sitzen bleiben, ohne zwischendurch fortzugehen? Nur so fühle ich mich wirklich sicher.“
„Grace, du kannst nicht …“ empörte sich Sophie, aber Doc machte eine Geste der Beschwichtigung.
„Natürlich, Grace. Rima ist schon zu Bett gegangen, und sie weiß, dass ich manchmal ganze Nächte hindurch nicht da bin. Ich bleibe hier bei Ihnen, Ehrenwort.“
Grace lächelte glücklich, sie war wieder in jenen seligen, kindlichen Zustand zurückgefallen, in dem sie jetzt die meiste Zeit zu Hause war. Ein Liedchen summend, zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück.
„Das müssen Sie nicht auf sich nehmen, Doc“, sagte Sophie leise. „Ich kann bei ihr
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