Das Haus der toten Mädchen
voll sog.
Er hatte sie nicht umgebracht. Das wusste er jetzt, mit tiefer, absoluter Gewissheit. Es war ein anderer gewesen, jemand, der sie beide beobachtet hatte. Jemand, der ihn noch immer beobachtete.
Es war noch nicht vorbei.
Er hatte Schwäche gezeigt, und das durfte er sich nicht erlauben. Er war seiner Berufung so viele Jahre treu geblieben, und jetzt, da sich seine Mission ihrem Ende zuneigte, hatte ihn seine Entschlusskraft im Stich gelassen. Er hatte ihre Tränen gesehen und ihr Bedauern gespürt und hatte sich dem Irrglauben hingegeben, sie verdiene eine zweite Chance, um ihre Sünden zu bereuen.
Für solchen Unsinn war er zu alt und zu weise. Er war einen Augenblick schwach gewesen, aber diesen Fehler würde er kein zweites Mal begehen. Und noch war nichts verloren. Sie hatte sich nur noch tiefer in ihre Schuld verstrickt, und nun würde es ihm leichter fallen, sie zu beseitigen. Wenn er sich dafür entscheiden würde.
Zwei tote Schwestern würden wahrscheinlich Verdacht wecken – selbst bei der gutgläubigen, behäbigen Provinzpolizei. Aber er zählte darauf, dass Gott seine schützende Hand über ihn hielt. Er würde tun, was getan werden musste, er würde sich nicht aus der Verantwortung stehlen, er würde die Aufgabe, die Gott ihm anvertraut hatte, nicht wieder in Frage stellen.
Er würde Sophie Davis und ihre Schwester töten. Und ihre Seelen befreien, so dass sie ins Paradies eingehen konnten.
Wenigstens Marty ist heute Abend guter Dinge, dachte Sophie, die versuchte, das Positive an der Lage herauszustreichen. Die Wutanfälle ihrer Schwester waren in den letzten Tagen immer seltener geworden, und heute Abend war sie geradezu reizend. Und sehr hübsch. Sie stand in der Küche, trug ein knappes Kleid und dezentes Make-up. Sogar ihr Haar mit den fuchsienroten Strähnchen sah halbwegs normal aus.
„Ich bin zum Abendessen nicht da. Ich gehe aus“, erklärte sie.
Sophie zog kaum merklich eine Augenbraue hoch. „Ein bisschen spät, mir das jetzt mitzuteilen, nicht? Mit wem gehst du aus?“
„Patrick.“ Ein Hauch von Aufsässigkeit schwang in der Stimme ihrer Schwester mit, der Sophie überraschte. Andererseits war die ganze Situation ziemlich überraschend. Patrick Laflamme sollte doch angeblich immun gegen Martys Brechstangen-Charme sein. Und man konnte ihn auch nicht als den Typ Mann bezeichnen, auf den Marty sonst flog: Er war ausgeglichen, verantwortungsbewusst und wohlerzogen.
Aber Sophie wusste, wann sie besser den Mund hielt. „Klingt nett. Kannst du abschätzen, wann du wieder da bist?“ Sie rechnete fast mit einer schnippischen Antwort, aber Marty zuckte nur mit den Schultern.
„Wahrscheinlich früh“, erwiderte sie. „Er ist ein artiger, fleißiger kleiner Pfadfinder.“
Sophie wandte ihr Gesicht ab, um ihr Grinsen zu verbergen. „Wie niederschmetternd“, sagte sie.
„Eigentlich nicht.“ Marty war geradezu in Plauderlaune. „Hast du ihn dir mal genauer angeschaut? Er ist den ganzen Zauber wert.“
„Ist mir nicht aufgefallen. Hast du vor, ihn zu verderben?“ erkundigte sie sich spöttisch.
„Ich gebe mir Mühe, ja.“ Wieder dieser klagende Tonfall. „Und er versucht, mich zu bessern.“
Jetzt konnte Sophie ihre Neugier nicht länger bändigen und drehte sich zu Marty um. „Und? Was meinst du, wer gewinnt?“
„Ich fürchte, ich habe nicht die geringste Chance“, antwortete sie. „Wahrscheinlich bringt er mich im Handumdrehen dazu, in die Kirche zu gehen und im Chor zu singen.“
„So leicht bist du normalerweise doch nicht zu überreden.“
„Patrick ist anders.“
Gott sei Dank, dachte Sophie.
Es läutete an der Tür. „Das wird er sein. Ich bin bald zurück!“ rief Marty und lief aus der Küche.
Sophie trocknete sich die Hände an der Schürze ab und folgte ihrer Schwester in den Flur. Patrick stand in der Türöffnung: frisch rasiert, im Jackett und mit Schlips. Er hielt einen Strauß leuchtend gelber Blumen in der Hand. „Wir bleiben nicht lange weg, Miss Davis“, sagte er höflich.
Es gab ihr jedes Mal einen kleinen Stich, wenn der überaus höfliche Patrick sie Miss nannte, aber das war immer noch besser als Ma’am. „Ich habe vollstes Vertrauen in dich, Patrick“, erwiderte sie.
Marty drehte sich um und streckte ihrer Schwester verstohlen die Zunge heraus.
„Ich werde Sie nicht enttäuschen, Ma’am.“
Oh Gott, da war es, das gefürchtete Ma’am. „Nennen Sie mich Sophie“, erwiderte sie heiter.
„Ja,
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