Das Haus der toten Mädchen
Ma’am.“
Vielleicht haben schlimme Jungs und Verlierertypen doch ihre Vorzüge, überlegte sie mürrisch, während sie zuguckte, wie die beiden in Patricks tadellos gepflegtem Pritschenwagen die Auffahrt entlangfuhren. Wenigstens gaben die einem nie das Gefühl, eine alte Jungfer zu sein.
Ein anderes Auto kam ihnen entgegen und ließ Patrick an einer breiteren Stelle des Wegs passieren. Das war auch so eine Sache, für die sie noch Geld auftreiben musste: Die Auffahrt musste in Schuss gebracht werden.
Doc hielt vor der Küchentür und stieg aus. Er war nicht allein, und Sophie erkannte Rima auf dem Beifahrersitz. Sie winkte ihr zu, und Rima nickte zum Gruß. Sie wirkte, als wäre sie in ihrer eigenen Welt versunken.
So traurig es für Doc auch sein mochte, für Sophie war Rimas Krankheit ein Segen. Zwar wusste sie nicht genau, welches Leiden Rima ans Haus fesselte und meistens zum Schweigen verdammte, aber Marge Averill hatte ihr verraten, dass sie schon seit Jahren „nicht ganz auf dem Damm“ war. Doc bewies im Umgang mit seiner Frau jede Menge Routine, Erfahrung und Geduld, und davon profitierte auch Grace, seit sie so plötzlich und unerwartet abbaute.
Sophie stieg die Verandastufen hinab, um ein paar Worte mit Rima zu wechseln, aber Doc wehrte ab. „Rima ist heute nicht nach Reden zumute“, sagte er mit mildem, resigniertem Lächeln. „Aber wenigstens konnte ich sie zu einer kleinen Spazierfahrt überreden, und jetzt nutze ich die Gelegenheit, nach Ihrer Schnittwunde zu sehen und Ihnen das hier zu bringen.“
Er überreichte ihr einen Strauß leuchtend gelber Blumen, und sie betrachtete sie lächelnd. Marty war also nicht die einzige Davis, die heute von einem Gentleman Blumen bekam. „Wie rührend“, meinte sie. „Ich glaube nicht, dass ich diese Sorte schon einmal gesehen habe. Wie heißen die?“
„Judastränen. Rima zieht sie in unserem Garten – sonst findet man sie kaum in dieser Gegend. Rimas Blumen sind ihr ganzer Stolz und ihre ganze Freude – im Grunde das Einzige, wofür sie sich noch begeistern kann. Ich habe ihr vorgeschlagen, dass wir in eine wärmere Gegend ziehen, wo die Pflanz- und Blühzeiten länger sind, aber sie will nichts davon hören. Sie ist hier in Colby zur Welt gekommen, und hier möchte sie auch sterben.“ Er warf einen liebevollen Blick zurück ins Auto. „Aber noch nicht so bald, wie ich hoffe. Wir beide sind Vermonter Urgestein: nicht so leicht kaputtzukriegen.“
„Soll ich ihr nicht wenigstens für die Blumen danken?“
„Nicht nötig“, entgegnete Doc. „Ich werde ihr sagen, dass sie Ihnen gefallen. Sie wird einfach hier im Wagen sitzen bleiben, während ich rasch nach Ihrer Mutter schaue. Grace war heute früh ziemlich unruhig, und ich mache mir Sorgen, dass sie vielleicht Wahnvorstellungen entwickelt.“
„Wahnvorstellungen?“
„Kein Grund zur Panik, Sophie. Ich lasse Sie damit nicht allein. Ich bin ja hier, um Ihnen zu helfen. Wenn Grace anfängt, sich Sachen einzubilden, bekommen wir das mit Medikamenten in den Griff. Was macht der Kopf?“
„Viel besser. Nicht mal mehr Kopfschmerz.“
„Warum stellen Sie nicht die Blumen ins Wasser, während ich einen Blick auf Grace werfe? Sie wollen doch nicht, dass sie welken, oder?“
Sie guckte auf den hübschen Strauß hinunter. Sie hatte sich geirrt, wie ihr jetzt auffiel. Diese Sorte war zwar selten, aber sie hatte sie schon einmal gesehen, und zwar vor kurzem. Wenn sie sich nur erinnern könnte, wo das war.
Sie ähnelten den Blumen, die Patrick Marty geschenkt hatte. Ja, das musste es wohl sein. Aber aus irgendeinem Grunde war das nicht der Zusammenhang, nach dem sie suchte.
Sie arrangierte die Blumen in einer kleinen blauen Vase und versuchte noch immer, sich zu erinnern, woher sie sie kannte, als sie aus dem Flur Grace’ und Docs Stimmen hörte. Der Tonfall wirkte ein bisschen gereizt, was sie erstaunte. Doc war immer so liebenswürdig zu Grace, wie zu all seinen Patienten, und Grace hatte trotz ihres rapiden Abbaus bisher immer reges Interesse an Doc gezeigt. Manchmal schien sie geradezu eifersüchtig zu sein, wenn Doc sich mit Sophie befasste; sie setzte jedenfalls einiges daran, die beiden nie allein zu lassen. Offenbar wollte sie ihn für sich behalten. Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihn mit Rima zu teilen, aber sie ließ nicht zu, dass Sophie oder Marty viel Zeit mit ihm verbrachten.
Sophie hörte, wie die Zimmertür ihrer Mutter leise geschlossen wurde, und drehte sich mit
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