Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
mir alles nimmst, was ich je wollte!«, schrie Maries Ehemann Giles an, und dann drückte er, ohne zu zögern, ab.
Zwei Wochen später erfuhr Marie-Geneviève in Nantes aus einer Zeitung, dass Giles L’Étoile an einer Schussverletzung gestorben war. Sie konnte weder essen noch schlafen. Noch mit dem Mann sprechen, mit dem sie verheiratet war. Um ihre Kinder kümmerte sie sich wie in Trance. Ihr Geist weilte am Sterbebett des Mannes, den sie von Kindheit an immer geliebt hatte. Wer hatte seine Hand gehalten? Wer hatte ihm tröstliche Worte zugeflüstert, während er von einer Welt in die nächste hinüberglitt?
Wäre sie nicht nach Paris gefahren, dann wäre Giles noch am Leben. Er war ihretwegen gestorben. Doch er hatte gesagt, sie seien füreinander bestimmt. Zwei Menschen, die von Kindesbeinen an unzertrennlich gewesen waren – fast so, hatte Maries Mutter gesagt, als sei einer von ihnen ein linker Handschuh und der andere der rechte.
Einundsechzig
PARIS, FRANKREICH
SONNTAG, 29. MAI, 13:08 UHR
Jac versuchte, aufzustehen, von der Orgel loszukommen. Wollte sich den Erinnerungen entziehen, die nicht ihre waren, und doch so realistisch, als hätte sie alles selbst erlebt. Doch es gelang ihr nicht. Da war noch mehr, das in ihr Bewusstsein drängte. Etwas Wichtiges, das sie erst noch begreifen musste. Die Geschichte hatte gerade erst angefangen.
Jac atmete ein und nahm die Spur wieder auf. Von den hunderten Fläschchen voller Essenzen und Absolues hatten viele längst keine leserliche Aufschrift mehr. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Welche dieser unzähligen Zutaten waren es, deren Kombination ihr solche Alpträume bereitete?
Sie nahm ein Fläschchen nach dem anderen zur Hand. War es dieses hier? Oder dies?
Es war aussichtslos. Wütend hieb Jac mit beiden Fäusten auf die Orgel ein, wie ein ungeduldiges Kind. Die Fläschchen stießen klirrend aneinander. Jac trommelte weiter. Es klapperte und klingelte. Doch irgendwo unterhalb dieser Duftorgelmusik hörte sie plötzlich ein Geräusch, das keinen Sinn ergab. Ein Echo.
Die Orgel war aus massivem Holz. Wie sollte etwas darin widerhallen?
Eine nach der anderen nahm Jac die Fläschchen aus der Orgelund stellte sie auf den Boden. Bald war die halbe Werkstatt von einem duftenden Teppich aus über dreihundert Flaschen bedeckt, von denen manche noch aus dem achtzehnten Jahrhundert stammten.
Die Orgel war jetzt leer. Ein offener Sarg. Ölflecken hatten im Laufe der Jahrhunderte ein abstraktes Muster auf den Regalbrettern hinterlassen. Systematisch klopfte Jac an jeden Winkel des Möbelstücks, bis sie es gefunden hatte. Ein Geheimfach.
Behutsam hebelte sie ein quadratisches Stück Holz aus seiner Verankerung und legte dahinter einen dunklen Hohlraum frei, aus dem eine mächtige Duftwoge entwich. Da war er: Robbies Duft des Trostes. Jacs Alptraum.
Jac steckte eine Hand in die Öffnung und tastete nach dem, was sie nicht sehen konnte. Als sie es herauszog, rieselten Dutzende fleckige Leinenstückchen zu Boden.
Es war eine Schriftrolle. Sie schien die Quelle jenes gefährlichen, exotischen, faszinierenden Geruchs zu sein.
Jac zögerte einen Augenblick, dann entrollte sie das Pergament. In seiner Mitte fand sie einen kleinen, weiß glasierten Tontiegel mit türkisfarbenen und korallenroten Mustern und schwarzen Hieroglyphen. Eine unbeschädigte Version desselben Gefäßes, dessen Scherben Robbie gefunden hatte. Sie nahm den Deckel ab, steckte tastend den Zeigefinger hinein und spürte, dass noch immer ein wenig Pomade an der Innenseite klebte.
Die Luft flimmerte. Bilder stiegen auf. Der Duft umschmeichelte Jac, packte sie und zog sie mit sich fort.
Zweiundsechzig
ALEXANDRIA, ÄGYPTEN, 32 V. CHR.
In allen Ecken des Raums brannten Weihrauchfässchen. Der Geruch feinsten Räucherwerks hing über den hölzernen Truhen und den meisterhaft geschnitzten, vergoldeten Sitzmöbeln. An der Decke war eine Sternkarte aus Lapislazuli und Silber angebracht. Detailreiche, kunstvoll in Erdfarben aufgetragene Wandgemälde zierten den Raum und wurden von stilisierten Wasserlilien gerahmt – von Thots Lieblingsblume, dem Blauen Lotus. Mehrere Türen waren in die Wände eingelassen, und durch eine davon, die größer war als die anderen, schritten sie in die nächste Kammer. In der Mitte stand ein schwarzer, granitener Sarkophag, fünfmal so groß wie ein normaler Mensch. In seine Oberfläche waren Hieroglyphen eingraviert, und eine Einlegearbeit
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