Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
duschen und sich ein bisschen ausruhen.« Hélène lächelte. »Sie könnten sich in Ruhe umziehen und vielleicht zur Abendbrotzeit wiederkommen. Dann ist er vermutlich ein bisschen munterer.«
Jac blickte an sich herunter. Ihre Bluse und der Schal waren blutbefleckt. Ihr rechter Schuh ebenso. Sie hatte immer noch die Kleidung von gestern Vormittag an.
Ja, es wäre das Beste, nach Hause zu fahren. Jac ging zur Tür, streckte die Hand nach dem Türgriff aus, ließ sie jedoch wieder sinken. Unwillkürlich wartete sie auf Griffins Abschiedsgruß. Aber nur seine gleichmäßigen Atemzüge waren zu hören.
Konnte sie jetzt wirklich gehen? Ihn schon wieder verlassen? Sie hatten sich viel zu oft getrennt. Von ihrer ersten Begegnung an bis zu dem Tag, als er im Park mit ihr gebrochen hatte, hatten sie sich so oft verabschieden müssen, dass es noch jetzt in ihr nachhallte.
Denn Griffin verabschiedete sich nie wirklich. Stattdessen neigte er den Kopf, ein halbes Lächeln huschte über seine Lippen, seine Stimme rutschte ein wenig tiefer, und er raunte leise: »Ciao.«
Als er es zum ersten Mal tat, hatte es in Jacs Ohren beinahe affektiert geklungen.
»Ciao?«, hatte sie gefragt.
»In Italien sagt man das auch, um jemanden zu begrüßen, nicht nur, wenn man geht. Ist das nicht viel besser? Warum sollten wir uns verabschieden wollen? Wir können einfach so tun, als seist du gerade erst gekommen, und wir hätten das ganze Wochenende noch vor uns.«
Jac machte kehrt, setzte sich an Griffins Bett und legte sich mit dem Oberkörper so gut es ging neben ihn. Sie schloss die Augen. Und sie erlaubte sich einen Gedanken, den sie seitfünfzehn Jahren nicht zugelassen hatte: dass sie bei ihm bleiben wollte.
Ihre Mutter konnte Jac nicht wiederbekommen. Sie konnte ihr Parfüm riechen und ihre Stimme hören, doch das war nur eine aus der Verzweiflung geborene Illusion. Griffin gab es wirklich. Wie viele Menschen blieben ihr? Und wie oft sollte sie diesen einen Menschen noch verlieren?
Im ersten Augenblick kam Jac die Berührung an ihrer Wange so selbstverständlich vor, dass sie ihre Bedeutung gar nicht begriff. Griffin wischte ihre Tränen fort. »In zu viel Trauer kann man auch ertrinken, weißt du«, flüsterte er.
Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Sagte kein Wort. Es gab nichts zu sagen. Es gab nur diesen Mann, den sie noch immer liebte. Den sie nicht noch einmal verlassen wollte. Nie mehr.
Neunundfünfzig
9:30 UHR
Zu Hause, in der Rue des Saints-Pères, schlüpfte Jac unter die Dusche. Dann versuchte sie, ein wenig zu schlafen, doch es war heller Vormittag. Und die Erinnerungen an die Ereignisse der letzten Tage ließen ihr keine Ruhe.
Barfuß, mit nassen Haaren, in den Frotteebademantel aus ihrer Jugend gehüllt, verließ sie ihr Schlafzimmer wieder. Auf dem Weg nach unten kam sie an Robbies Zimmer vorüber und hoffte, dass er wach war, doch seine Tür war geschlossen.
In der Küche goss sie sich eine Tasse Étoile de Paris auf. Ihr Großvater hatte einmal gesagt, Mariage Frères habe diesen Tee eigens für ihn komponiert. Jac hatte sich immer gefragt, ob er die Wahrheit sagte. Sie sah dabei zu, wie die getrockneten Blätter allmählich das Wasser färbten, und inhalierte ihren Duft. Minze, von Vanille gestützt, und eine florale Note. Jac schnupperte. Vertraut, und doch nicht leicht zu erfassen. Würzig und süß zugleich. Sehr grün.
Lotus.
In den wenigen Sekunden in der Orangerie, als Jac den Beutel von Robbie übernommen hatte und auf Xie Ping zueilte, hatte sie den Duft der Tonscherben plötzlich viel klarer wahrgenommen als in den Katakomben. Trotz der Aufregung hatte sie in dem Moment alle einzelnen Bestandteile des Parfümsgenau erkannt. Weihrauch und Myrrhe, Blauer Lotus, Mandelöl und …
Noch etwas. Aber sie kam nicht mehr darauf. Wie konnte das sein? Im Museum hatte sie es gewusst. Was war es nur?
Es mochte nicht wichtig sein, doch Jac wollte es jetzt genau wissen und ging über den Hof in die Werkstatt.
Der Geruch, den Robbie den Duft des Trostes nannte, erfüllte die Luft. Seit zwei Tagen war niemand mehr hier gewesen. Der dunkle, verstörende Duft längst vergangener Zeit, der Geruch von Reue, von Sehnsucht und Wahnsinn, war stärker geworden.
Hier in diesem Raum hatten all ihre Vorfahren die flüchtigen Essenzen von Blüten, Gewürzen, Hölzern und Mineralien zu einem neuen Ganzen zusammengefügt. Hatten Elixiere angerührt, um ihre Gönner gütig zu stimmen, Parfüms erschaffen,
Weitere Kostenlose Bücher