Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
hinein. Sah sie an.
Also gab es hier tatsächlich Geister. Giles war in Ägypten gestorben, als sie fast noch ein Mädchen war. Er war seit vielen Jahren tot.
Aber der Mann, der sie anstarrte, als sei sie ebenfalls ein Geist, war offensichtlich quicklebendig.
Ihre Blicke trafen sich. Einen Moment lang vergaß Marie-Geneviève, dass sie verheiratet und die Mutter zweier Kinder war und dass sie mit ihrem Ehemann in einer gemieteten Kutsche saß. Ihr entfuhr ein Laut, der wie ein Aufschluchzen und ein Lachen klang.
»Was ist dir,
ma chérie
?«, fragte ihr Ehemann.
»Verzeih, mir ist ein wenig unwohl …«
Als ihr Ehemann an jenem Abend eingeschlafen war, stahl sich Marie-Geneviève aus dem Hotelzimmer. Es war nicht weit bis in die Rue des Saints-Pères. Die Straßen waren nicht gefährlich. Marie war keine vierzigjährige Frau mit grauen Haaren mehr, sondern das junge Mädchen von damals. Sie ging nicht, sie flog.
Trotz der späten Stunde war die Tür zum Laden nicht verschlossen. Obwohl sie nicht miteinander gesprochen, nichts vereinbart hatten, war er da und wartete auf sie.
»Woher wusstest du, dass ich kommen würde?«, fragte sie.
»Wo bist du all die Jahre gewesen?«
Sie begannen beide gleichzeitig zu erzählen, doch bevor sie nur halb fertig waren, schloss Giles sie in die Arme und ließ sie nicht mehr los, bis die ersten Sonnenstrahlen die Parfümflakons zum Funkeln brachten.
Marie-Geneviève schaffte es, wieder im Hotel zu sein, bevor ihr Ehemann erwachte. Sie zog sich um und versuchte, sich so zu verhalten wie immer. Doch es kam ihr vor, als seien zwanzig Jahre ihres Lebens einfach ausgelöscht worden. Der Mann an ihrer Seite war ihr fremd. Sie hatte vergessen, was sie mit ihm verband.
Vier Tage blieben sie noch in der Stadt der Lichter, und jede Nacht gab sie vor zu schlafen und wartete, bis der Fremde neben ihr gleichmäßig und tief zu atmen begann. Dann stand sie auf, zog sich an und schlich davon.
Die Dunkelheit war ihr Komplize. Heimliche Rendezvous waren in Paris so alltäglich, dass man sie nicht weiter beachtete. Sie verbarg sich in den Schatten und eilte in die Arme ihres Geliebten.
In der letzten Nacht ihres Aufenthalts, als sie erschöpft auf dem Kanapee in der Werkstatt in Giles’ Armen lag, bat er sie, ihren Ehemann zu verlassen und bei ihm in Paris zu bleiben.
»Aber wir sind beide verheiratet. Wir haben Kinder!«, schluchzte sie.
»Bring deine Kinder mit. Ich kaufe euch ein Haus. Dann kann ich dort mit euch leben und hier arbeiten.«
Marie-Geneviève schüttelte den Kopf. »
Ce n’est pas possible
.«
Giles stand auf und holte etwas aus einer Kommode. Maries
Augen waren so voller Tränen, dass sie nicht erkennen konnte, was es war.
»Du hast keine Wahl«, sagte er.
»Ich verstehe nicht …«
»Die alten Ägypter haben an die Vorsehung geglaubt. An das Schicksal. Du und ich, wir sind füreinander bestimmt.« Er öffnete einen kleinen Lederbeutel und kippte dessen Inhalt in seine hohle Hand. »Hier, riech daran.«
Marie-Geneviève beugte sich zu dem Tongefäß hinunter, und die Welt begann sich um sie zu drehen. Im ersten Moment hatte sie panische Angst. Es fühlte sich an wie damals, als sie in der Loire versank. Dunkelheit, Kälte, der Gestank von Fäulnis und Schlamm. Dann trugen kleine, sanfte Duftwogen sie aus Nantes fort und weiter in die Vergangenheit. Violette Düfte, rotbraune, samtig meerblaue und sternenklare. Ein dunkelhäutiger Mann saß neben einer Frau mit rabenschwarzem Haar und reichte ihr einen Tiegel.
Wie im Spiegelsaal in Versailles erblickte sie ihr eigenes Ebenbild, doch es war Iset, die sie sah, die sich über die Hand ihres Geliebten beugte, um an dem Parfüm zu riechen.
Der Mann, Thot, sprach eine Sprache, die Marie nicht kannte und doch verstand. Er sagte dieselben Worte, die Giles gerade ausgesprochen hatte.
»Wir sind füreinander bestimmt.«
Dann hörte sie ihren eigenen Namen rufen. Die Stimme kam aus der Gegenwart und riss sie aus ihren Träumen. Die Stimme ihres Ehemanns. Der freundliche, sanftmütige Winzer, der ihr das Leben gerettet hatte, stand zornbebend vor ihr und hielt eine Pistole in der Hand.
Die ersten Sonnenstrahlen drangen zum Fenster herein und brachten den Lauf der Waffe zum Funkeln. Hätte Marie-Geneviève geglaubt, dass ihr gütiger, gottesfürchtiger Ehemann in der Lage sei, die Pistole abzufeuern, dann hätte sie sich vor ihren Geliebten geworfen. Doch es schien undenkbar.
»Ich werde nicht zulassen, dass du
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