Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
an denen sich Kaiser und Königinnen ergötzten, Zaubertränke, denen niemand widerstehen konnte.
Hier hatte Jac herausgefunden, dass sie anders war als alle anderen. Hier hatte sie mehr gelitten als irgendwo sonst. Ihre Mutter hatte sie hier im Stich gelassen. Robbie hatte sein Leben retten wollen und ein anderes zerstört. Hier, in diesem Raum voll Wunder und Grauen, hatten Menschen ihr Geheimnis verloren und wiedergefunden. Und wieder verloren.
Jac starrte auf die verhasste, gefürchtete Orgel. Vielleicht wurde es Zeit, sich ihren Alpträumen zu stellen, statt sich dagegen zu wehren. Vielleicht musste sie lernen, mit einer Krankheit zu leben, die sie nicht immer kontrollieren konnte.
Sie setzte sich an die Duftorgel und atmete ein. Hunderte Aromen schlugen ihr entgegen. Ein Hauch Rose. Jasmin. Orangenblüte. Sandelholz. Myrrhe, Vanille, Orchidee, Gardenie, Moschus. Konnte es irgendwo sonst so unendlich viele Gerüche geben? Einen Aromenreichtum, eine Schatzkammer der Düfte. Jeder einzelne hatte seine Geschichte. Statt Mythen zuerforschen, hätte Jac den Rest ihres Lebens damit verbringen können, diese alten Geschichten zurückzuverfolgen.
Die Glasfläschchen waren Linsen, die Flüssigkeiten darin brachen wie Prismen das Licht. Jac verschwamm alles vor Augen. Aus den Gold-, Bronze- und Bernsteintönen begannen Bilder aufzusteigen. Jac konnte die Essenzen herausfiltern, aus denen das Parfüm ihrer Mutter bestand. Oder das Cologne ihres Vaters. Sie erinnerte sich, wie sie, als sie noch klein war, bevor alles Unglück begann, manchmal auf dem Schoß ihres Vaters hier an der Orgel saß, während er ihr die Geschichte von dem Buch der verlorenen Düfte erzählte, das ihr Vorfahr gefunden hatte. Sie schloss dann die Augen, und die Bilder zogen an ihrem inneren Auge vorbei.
Sechzig
PARIS, FRANKREICH, 1810
Marie-Geneviève begleitete ihren Ehemann, weil sie keinen triftigen Grund fand, nein zu sagen. Doch gern reiste sie nicht von Nantes in die Stadt ihrer Jugend. Erinnerungen konnten ihr gefährlich werden. Manchmal rissen sie sie nachts aus dem Schlaf, packten sie und ließen sie nicht mehr los. Die grausame Revolution, die in jener Stadt begonnen hatte, hatte ihr die ganze Familie genommen. Die Mutter, den Vater, zwei Schwestern – alle hatte man ins Gefängnis geworfen und dann hingerichtet.
In Paris würde sie den Geistern der Vergangenheit nicht entkommen können. Sie würde dieselben Straßen entlanggehen wie in ihrer Jugend. Alles würde sie an damals erinnern. Und an Giles.
Doch ihr Ehemann wollte sie dabeihaben. Und sie hatte keine Ausrede, es ihm abzuschlagen. Er war ein guter Mensch. Vor Jahren hatte er ihr das Leben gerettet, als er sie halb ertrunken am Ufer der Loire fand. Der Priester, an den man sie gebunden hatte, hatte seine letzten Kräfte dazu aufgeboten, die Fesseln zu lösen, damit sie die Chance hatte, zu überleben.
Befreit von seinem Gewicht, war Marie-Geneviève an die Oberfläche gelangt, hatte hustend und würgend nach Luft geschnappt. Eine günstige Strömung hatte sie ans Ufer getrieben.
Die ersten beiden Tage in Paris waren nicht so anstrengend, wie sie befürchtet hatte. In den vergangenen siebzehn Jahren hatte sich so viel verändert, dass ihre Erinnerungen von all den neuen Eindrücken abgeschwächt wurden.
Am dritten Tag saß Marie-Geneviève entspannt in einer Mietkutsche und überquerte die Pont du Carousel. Sie sah einer Frau nach, die ihre drei Kinder zur Ordnung mahnte, und fragte sich nicht einmal, wo sie war und wohin die Fahrt gehen sollte. Dann bog die Kutsche jedoch in die Rue des Saints-Pères ein und hielt.
Marie-Geneviève drehte sich nach ihrem Ehemann um. »Wo sind wir hier?«
»Das ist eine Überraschung.«
Sie hatte ihm nie von den L’Étoiles erzählt.
»Aber ich verstehe nicht …«
Bemerkte er ihre aufsteigende Panik? Warum lächelte er?
»Hier soll man die besten Parfüms von ganz Paris bekommen. Das wäre doch ein schönes Andenken an unsere Reise.«
»Das ist sicher sehr teuer. Wir haben schon genug Geld ausgegeben.« Marie sah ihren Ehemann an, doch hinter ihm, durch das Fenster der Kutsche, war die Tür der Parfümerie zu sehen, durch die sie unzählige Male ein und aus gegangen war. Die Tür öffnete sich. Jemand trat heraus. Zuerst dachte sie, es sei Jean-Louis L’Étoile. Hochgewachsen. Graues Haar. So leuchtend blaue Augen, dass man trotz der Entfernung ihre Farbe erkennen konnte.
Der Mann bemerkte die Kutsche und schaute
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