Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
auseinander und ging systematisch alle Taschen durch.
Xie stand neben Cali hinter einer Kunststoff-Trennwand und zwang sich wegzusehen. Obwohl er wusste, dass das Gepäck von Auslandsreisenden stichprobenartig kontrolliert wurde und in seinem nichts Verdächtiges zu finden war, war er nervös. Warum hatten sie ausgerechnet ihn ausgesucht? Ahnte Chung, dass er seine eigenen Gründe hatte, diese Reise anzutreten, und hatte die Grenzwächter alarmiert?
»Nach der nächsten Kontrolle müssen wir uns trennen«, sagte Cali und zeigte auf eine weitere Sicherheitsschleuse.
Ihre Hand sah aus wie eine Blüte im Wind, fand Xie.
»Da verabschieden wir uns, und schon bist du unterwegs.«
Xie war dankbar für diese Ablenkung von dem Zollbeamten, der ihn mit jedem Kleidungsstück, das er auspackte, nervöser machte.
»Warst du überhaupt jemals so weit weg?«, fragte Cali.
»Nein. Ich habe China noch nie verlassen.« Xie staunte, wie leicht es ihm fiel zu lügen, selbst wenn er mit jemandem sprach, der ihm so viel bedeutete. »Letztes Jahr war ich in Hefei, als Professor Wu den Lanting-Preis bekommen hat.« Der Lanting-Preiswar eine Auszeichnung für herausragende Kalligraphen, die bedeutendste in ganz China.
Der Beamte nahm einen grauen Pullover aus dem Koffer und schüttelte ihn aus. Xie riss sich zusammen, um ihn nicht anzustarren.
»Ich meine keine zweieinhalbstündige Busfahrt«, sagte Cali. »Diesmal verlässt du China. Du reist mit dem Flugzeug und lernst fremde Länder kennen. Isst Sachen, die du nicht mal erkennst.« Ihre Augen leuchteten, als sie es sich ausmalte.
»Du hättest auch ausgewählt werden sollen«, sagte Xie. »Deine Arbeiten sind mindestens so gut wie die der anderen Kandidaten. Wenn nicht besser.«
»Aber ich rede zu viel. Ich bin fast schon subversiv.« Sie lachte. »Dass meine Werke nicht ausgewählt wurden, macht mir nichts aus. Ich beneide dich nur, weil du fährst und ich nicht. Ich würde auch gern die Kunstwerke sehen, die du sehen wirst.« Trotz der Trennwand begann sie zu flüstern. »Und mit den Leuten reden, die du kennenlernst. Um ihnen zu erzählen, was hier wirklich los ist.«
»Ich weiß«, sagte Xie.
Der Beamte griff nach einem Paar von Xies Socken, nahm sie auseinander und steckte die Hand hinein.
»Ich erzähle es ihnen.«
Calis dunkle Augen blitzten. »Tust du nicht«, zischte sie leise. »Du gehst nie Risiken ein. Ich kenne dich doch. Bitte, Xie, sei nicht immer so vorsichtig. Die da draußen müssen wissen, wie wir unter der Zensur zu leiden haben. Wie sie uns kleinhalten.«
Xie hatte zwei Jahre gebraucht, ehe er Cali so weit vertraute, dass er zugab, ein Geheimnis zu haben. Doch selbst dann verriet er ihr nur die Hälfte: »Ich will ein buddhistischer Mönch werden.« Mehr sagte er nicht. Für alles andere fand er keine Worte: dafür, wie in ihm ein Lama erkannt wurde, für die Jahre im Kloster, die Feuersbrunst und seine Entführung.
Cali konnte nicht nachvollziehen, was ihn an dem entbehrungsreichen Leben eines Mönches anzog, und reagierte gereizt, als er es nicht erklären konnte. Sie fand, er solle sich lieber ihrem Freundeskreis anschließen, einer Gruppe radikaler junger Leute, die China verändern und endlich die Schranken einreißen wollten.
Doch Xie zog es in die andere Richtung – in die fast versunkene Welt der meditativen Einkehr.
Obwohl Cali seinen Wunsch nicht verstand, zögerte sie nicht, Xie zu unterstützen. Sie nutzte ihr technisches Wissen, um in seinem Namen an der Internetzensur vorbei verschlüsselte E-Mails an Klöster im Ausland zu verschicken. Sie ging fest davon aus, dass es ihm einzig auf spirituellen Beistand ankam, und ahnte nicht einmal, was er in diesen Mails tatsächlich schrieb und worauf er sich vorbereitete.
Und nun waren sie hier: Cali, die die Welt verändern wollte, und er, der sich gerade anschickte, es zu tun. Es schmerzte ihn, nicht sagen zu können, dass sie dasselbe Ziel hatten und diese Reise ein Teil des Plans war, doch zumindest wollte er sie trösten. »Deine Chance kommt noch«, sagte er. »Nächstes Jahr. Die im zweiten Studienjahr werden immer vorgezogen.«
Der Beamte hatte sich inzwischen seine Turnschuhe vorgenommen und inspizierte gewissenhaft erst den rechten, dann den linken. Er nahm sogar die Einlagen heraus. Xie rann der Schweiß den Rücken hinunter. War das alles nur eine Verzögerungstaktik, bis ein Beamter höheren Ranges kam und ihn verhaftete? Nein, das wäre nicht ihre Art. Ablenkungsmanöver hatten
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