Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
später erkannte Jac, wie widersprüchlich dieser Ratschlag war – fiel die Frau, die ihn erteilt hatte, doch ihren eigenen Gefühlen zum Opfer.
Plötzlich blieb Jac die Luft weg. Das Durcheinander der Gerüche war noch erdrückender, als sie es in Erinnerung hatte.
Jac hatte schon so lange keinen Schub mehr gehabt, dass sie glaubte, sie sei von ihrer Krankheit geheilt. Doch jetzt, zum ersten Mal seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr, rannen ihr wieder schmerzhaft kalte Schauder über beide Arme. Die Gerüche drangen immer intensiver auf sie ein. Das Licht verblasste. Schatten breiteten sich aus. Ihre Gedanken begannen zu rasen.
Nein. Nicht jetzt. Nicht hier.
Damals, in der Klinik, hatte Malachai ihr beigebracht, ihre Visionen mit einfachen Handlungsabläufen selbst unter Kontrolle zu bringen. Mit ihrem Notfallplan, wie sie es nannte. Sie erinnerte sich sofort wieder daran und folgte den Anweisungen: Öffne ein Fenster oder eine Tür. Verschaff dir frische Luft. Bring deinen Verstand unter Kontrolle, indem du ihm etwas zu tun gibst. Zähle alle Gerüche auf, die dich umgeben.
Ohne zu wissen, wie sie dort hingeraten war, fand sich Jac im Hofgarten wieder. Sie atmete tief durch. Gras. Rosen. Flieder. Hyazinthen. Fast hätte sie den blauvioletten Hyazinthen, die den Kiesweg säumten, grüßend zugelächelt.
Jac atmete ebenmäßig weiter. Sie ging an den Buchsbaumpyramiden vorüber ins Labyrinth.
Erst jetzt fühlte sie sich zu Hause angekommen, hier, zwischen den mehr als mannshohen Hecken aus zweihundert Jahre alten Zypressen. In diesem verwirrenden Geflecht von Umwegen und Sackgassen fühlte sie sich geborgen. Wer sichhier nicht auskannte, ging in die Irre. Doch Jac und ihr Bruder fanden sich mühelos zurecht. Jedenfalls damals, als sie Kinder waren.
Im Mittelpunkt des Labyrinths warteten die zwei Sphinxen und die steinerne Bank auf sie. Davor ragte der mit Hieroglyphen bedeckte Obelisk aus dem Boden. Jac setzte sich in seinen Schatten.
Von den Erwachsenen hatte niemand gern das Labyrinth betreten, also hatte sie es oft als Versteck vor zornigen Eltern oder der Kinderfrau benutzt. Hier war sie vor allen sicher, außer vor Robbie. Und ihn hatte sie immer gern um sich gehabt. Wo war er nur?
Jac spürte, wie Panik in ihr hochstieg. Doch das half jetzt nicht weiter. Sie musste sich konzentrieren, musste Antworten finden. Wieder sog sie die klare, frische Morgenluft in sich auf und zwang sich, sich den Anblick der Werkstatt vor Augen zu rufen. Es war ein einziges Chaos. Selbst wenn es noch Hinweise darauf gab, was hier in der vorletzten Nacht geschehen war, wie hätte man sie in diesem Durcheinander finden sollen?
Robbie hatte ihr beschrieben, in welchem Zustand er die Werkstatt übernommen hatte, so schlimm hatte sie es sich allerdings nicht vorgestellt. »Wie eine Metapher für den Zustand unseres Unternehmens«, hatte er gesagt. »Für den geistigen Zustand unseres Vaters.«
Robbie hatte auch erzählt, dass Louis in den letzten Jahren nichts mehr weggeworfen hatte. Alles hatte er aufgehoben: sämtliche Notizzettel, Rechnungen, Briefe, Flaschen und Kisten. Die Schränke und Regale quollen davon über. Robbie hatte geklagt, dass ihn jedes Mal, wenn er eine Schublade öffnete, eine Fülle neuer Probleme erwartete.
»Mademoiselle L’Étoile?« Eine männliche Stimme klang gedämpft durch die Zypressenhecken.
»Hier«, rief sie. »Moment, das Labyrinth ist nicht groß, aberman verläuft sich trotzdem leicht. Bleiben Sie, wo Sie sind, ich hole Sie ab.«
Jac folgte den verschlungenen Pfaden und traf auf einen gut gekleideten Mann mittleren Alters, der stirnrunzelnd die Hecken betrachtete.
»Ich wusste gleich, dass ich da nicht durchblicken würde«, sagte er, gab ihr die Hand und folgte ihr. »Ich bin Inspektor Pierre Marcher.«
Irgendetwas an ihm kam Jac bekannt vor. »Kennen wir uns?«, fragte sie.
»Ja, wir sind uns schon begegnet«, sagte er. »Vor langer Zeit.«
Sie konnte ihn einfach nicht einordnen. »Tut mir leid, ich weiß nicht …«
»Ich bin schon seit zwanzig Jahren in diesem Bezirk.«
Jac nickte; sie verstand die Andeutung.
»Also waren Sie dabei, als …«
»Ja. Ich habe Sie damals vernommen«, sagte er. »Sie waren noch so jung. Eine Schande, dass ausgerechnet Sie sie finden mussten.«
Audrey hatte sich in der Werkstatt ihres Mannes das Leben genommen, damit er ihre Leiche fand. Es war an einem Wochenende. Robbie war bei der Großmutter. Jac sollte die Tage mit einer Freundin und ihrer
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