Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
gewesen. Immer stimmten die Dinge, die Robbie liebte, Jac melancholisch. Doch sie spielten viel miteinander. Und hielten zusammen. Trotz ihres Altersunterschieds waren sie beste Freunde. Jac wirkte jung für ihr Alter, während Robbie für das seine reif war. Gemeinsam einsam, wie sie waren, schufen sich die Geschwister ganze Welten, die sie erobern konnten, und Spiele, mit denen sie sich die Zeit vertrieben, wenn ihr Vater wieder einmal in die Arbeit vertieft und ihre Mutter in Trauer und Leid versunken war.
Eins der Spiele, das sie erdachten, das Spiel der unerhörtenDüfte, ließ sie nicht mehr los. Immer wieder setzten sie sich an die kleine Duftorgel, die der Vater im Spielzimmer aufgebaut hatte, und erfanden Parfüms, die sie verwendeten, um sich untereinander zu verständigen – einen kleinen Wortschatz der Düfte, den sie als Geheimsprache einsetzen konnten. Sie erfanden Rezepturen für Lachen und Weinen, Glück und Zorn, Hunger und Verlust.
Vor den Wagenfenstern zogen mehr und mehr vertraute Gebäude vorbei. Als sie das sechste Arrondissement erreichten, konnte Jac ihr Herz schlagen hören.
Sie bogen in die Rue des Saints-Pères ein. Ein Polizeiauto stand vor der Parfümerie, halb auf der Straße und halb auf dem Gehsteig. Zwei Beamte bewachten den Eingang. Jac hatte mit diesem Anblick gerechnet, doch ihn wirklich vor sich zu haben war beängstigend.
Obwohl die Polizisten Jacs Ankunft erwartet hatten, kontrollierte erst der eine, dann der andere ihren Pass. Dann erst durfte sie mit ihrem eigenen Schlüssel die Ladentür öffnen.
Mit angehaltenem Atem trat Jac über die Schwelle. Sie sah sich um. Ihr ganzes Leben hatte sich seit ihrem letzten Besuch verändert, doch hier schien alles wie immer zu sein. Sie sah ihr Gesicht – müde und abgekämpft, mit dunklen Ringen unter den Augen – in denselben antiken Spiegeln. Dieselbe vertraute Melange aus den Duftklassikern des Hauses stieg ihr in die Nase. Sie blickte hoch, und dieselben niedlichen, unbeschwerten Fragonard-Putten lachten ihr entgegen. Ihre Heiterkeit wirkte heute, angesichts der ernsten Lage, seltsam deplatziert.
Das Geräusch ihrer Schritte hallte von den verspiegelten Wänden wider. Am Verkaufstresen blieb sie stehen und fuhr mit dem Finger über seine kühle gläserne Oberfläche. Hier hatte ihr Vater seine Parfüms verkauft. Ebenso wie der Vater ihres Vaters, wie dessen Vater und wie schon der erste Parfümeur L’Étoile, der diesen Laden 1770 eröffnet hatte. Wie alledamaligen Parfümeure hatte er zuerst Handschuhe hergestellt und Duftstoffe verwendet, um den Geruch des Ziegenleders zu übertönen. Als er sah, wie begeistert seine Kunden von seinen Fähigkeiten waren, erweiterte er sein Sortiment um weitere parfümierte Produkte: Kerzen, Pomade, Seife, Duftkissen, Puder, Öle und Cremes.
Robbie liebte diese alten Geschichten. Er kannte die Lebensdaten all ihrer Vorfahren und wusste, welche Parfüms sie kreiert hatten.
Robbie.
Es hatte keinen Sinn, den nächsten Schritt weiter hinauszuzögern. Wenn es Hinweise darauf gab, was mit Robbie geschehen war, wären sie bestimmt nicht hier im Laden zu finden. Es war naiv gewesen, zu glauben, dass sie die Werkstatt nie wieder betreten würde.
Mit zitternden Händen drückte Jac gegen einen der Spiegel hinter dem Tresen und öffnete die verborgene Tür. Der dunkle, leere Flur gähnte ihr entgegen. Sie ging hindurch. Als sie in die Werkstatt eintrat, legte sich die alte Trauer wie eine schwere Last auf ihre Schultern. Sie sah sich nach Hinweisen um, doch alles, was sie wahrnahm, war der vertraute, geisterhafte Geruch des Raums. Gewürze, Blüten, Hölzer, Regenduft und Erde – unzählige Extrakte und Destillate verbanden sich zu einem einzigartigen, charakteristischen Aroma. Manchmal erwachte sie nachts tränenüberströmt aus einem Traum und hatte eben diesen Duft in der Nase.
Außer im Schlaf weinte Jac nur selten. Sie hatte schon als Kind gelernt, ihre Tränen zurückzuhalten. Ihre Mutter war ganz anders: Oft saß sie in ihrem Arbeitszimmer unter dem Dach tief über ihre Manuskripte gebeugt, wenn Jac eintrat, und ließ ihren Tränen freien Lauf.
»Nicht weinen«, flüsterte Jac dann. Audrey leiden zu sehen zog ihr das Herz zusammen. Sie hob die Hand und strich ihrbehutsam die Tränen von den Wangen. Das Kind, das seine Mutter tröstete – ein fataler Rollentausch.
»Bitte, wein doch nicht.«
»Es ist nicht schlimm zu weinen, Liebes. Vor Gefühlen muss man sich nicht fürchten.« Erst
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