Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Seite, bis die fast einen Meter breite Öffnung freilag.
»Was ist da unten?«, fragte Griffin.
Jac versuchte, die in ihr aufsteigende Panik zu ignorieren, und wagte einen Blick in die Tiefe. Die Luft, die ihr entgegenwehte, roch nach Staub und Erde, fauligem Laub und feuchten Steinen.
Griffin hielt die Kerze in die Öffnung. Die Flamme erhellte nur die metallene Einfassung und ein wenig Mauerwerk. Darunter war unendliche Dunkelheit.
»Riechst du den Duft der Treue?«, fragte Griffin.
»Nein, jetzt nicht mehr.«
Die Suche war beendet, bevor sie richtig begonnen hatte.
Griffin hob die Kerze wieder, doch seine schnelle Bewegung löschte die Flamme, und der Garten wurde so dunkel wie das Loch im Boden.
»Keine Sorge. Wir finden ihn.«
Jac konnte Griffin nicht sehen. Sie hörte nur seine Stimme. Wie eine kühlende Brise, die von weit her zu ihr herüberwehte. Sie jagte Jac mit ihrer Vertrautheit Schauder über den Rücken und brachte sie dazu, ihre Jacke fester um ihre Schultern zu ziehen. Als könnte sie sich so vor ihm schützen.
Griffin zündete wieder ein Streichholz an. Der Docht fing zischend Feuer. Behutsam senkte er die Kerze wieder, damit sie nicht noch einmal erlosch.
Obwohl Griffin die Kerze noch tiefer hielt, konnte Jac nicht auf den Grund sehen. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie es hören konnte. Die Panik packte sie immer fester und drohte sie zu lähmen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Griffin. »Das muss für dich die Hölle sein.«
Jac nickte. Einen Augenblick lang war die Überraschung, dass er sich daran erinnerte, größer als die Angst.
Jac hatte Angst vor Kanten. Eine merkwürdige Phobie, und sehr selten, wie einer ihrer Therapeuten in der Schweiz angemerkt hatte. Große Höhen störten Jac nicht weiter. Sie lebte in New York im siebenundzwanzigsten Stock. Doch wenn sie nur in die Nähe einer Bahnsteigkante kam, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Was, wenn sie stolperte, wenn sie ausrutschte oder, noch schlimmer, gelähmt am Abgrund stehen bleiben musste?
Jac wusste, wie alles begonnen hatte, doch die Entstehungsgeschichte ihrer Angst zu kennen half nicht viel gegen den Zustand selbst. Sie hatte mit dem acht Jahre alten Robbie Verstecken gespielt. Er war aus einem Giebelfenster auf das Dach hinausgeklettert. Jac bemerkte auf der Suche das offene Fenster und folgte ihm. Das Dach war groß und bot mit seinen Schornsteinen und Winkeln viele gute Verstecke. Jac begann sie einzeln abzusuchen, als sie plötzlich Stimmen hörte. Sie lief zur Dachkante vor und sah hinab. Ihre Eltern standen unten auf der Straße und stritten sich. Das taten sie oft, und Jac litt jedes Mal daran. Es war ihr unerträglich, die beiden unglücklich zu wissen.
Diesmal war ihre Auseinandersetzung besonders derb und laut. Jac war von den Beleidigungen und Drohungen so schockiert, dass sie nicht hörte, wie Robbie sich von hinten näherte. Als er sie ansprach, fuhr sie zusammen und drehte sich um, wobei ihr Fuß über die Kante rutschte. Sie stürzte. Robbie erwischte sie im Fallen, hielt sie fest und zog sie über die Dachziegel wieder zu sich herauf, was ihr tiefe Schrammen einbrachte, aber Knochenbrüche oder Schlimmeres verhinderte.
Atmen. Das half immer. Tief durchatmen, sagte sie zu sich selbst. Wenn Robbie da unten ist, musst du ihm helfen.
Jac wusste, wie sie sich beruhigen konnte. Sie konzentriertesich darauf, die Gerüche ihrer Umgebung zu unterscheiden. Erde. Verrottendes Holz. Staub und Flechten. Das frische, reine Harz der Zypressen im Labyrinth. Der nachtblühende Jasmin und die frühen Rosen. Und Gras. Zusammen ergaben sie ein erdiges, dunkles
Oud
, einen geheimnisvollen, verstörenden Duft, der an dichte Wälder denken ließ, in deren Tiefen nur selten ein Lichtstrahl drang. In denen ein Kind bis in alle Ewigkeit umherirren konnte, ohne je einen Ausweg zu finden.
Von dem, wonach sie suchte, fand Jac keine Spur.
War ihr Bruder hier oder nicht? Hatte er ihr Zeichen geben wollen? Und wenn nicht, warum war dann der Obelisk mit Erde beschmiert? Wie waren die Kiesel durcheinandergeraten? Hatte eine Katze hier gewütet?
»Robbie?«, rief sie in die Tiefe und lauschte angestrengt.
Nur ihr eigenes Echo kam wie zum Spott zu ihr zurück.
So ein Unsinn, dachte sie. Als würde er da unten herumsitzen und auf sie warten.
»Robbie?«, rief sie trotzdem zum zweiten Mal.
Nichts.
»Was
ist
da unten bloß?«, flüsterte sie, mehr an die Nacht um sie herum gerichtet als an Griffin. Sie schämte sich
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