Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
wollten sie jetzt? Wo vermutete Jac L’Étoile ihren Bruder? Sie hatte den Ort nicht genannt.
Auf der Brücke hielt Valentine reichlich Abstand von dem Paar. Als die beiden an einer Ampel warten mussten, hielt sie an, zog eine Kamera hervor und knipste Bilder von der Seine.
Die Dunkelheit hatte sich über Paris gesenkt. Die Lichter der Stadt spiegelten sich in der Wasseroberfläche. Ein Touristendampfer glitt unter der Brücke hindurch, von dessen Deck Fetzen eines Stücks von Django Reinhardt heraufwehten. Der vertraute Klang dieser Musik umschlang Valentine und ließ sie nicht wieder los. Jede Gegenwehr war zwecklos. Eine Welle der Emotionen spülte über sie hinweg. Das war François, sein Rhythmus, sein Groove. François hatte diese Musik gespielt, dazu getanzt, sie geatmet und gelebt. Reinhardt war sein größtes Idol gewesen. Der Verlust, den Valentine verdrängt hatte, traf sie nun mit voller Wucht. Härter, als sie es je geglaubt hätte. In gewisser Weise war sie sogar dankbar für den Schmerz. Es war falsch gewesen, nach seinem Tod einfach weiterzumachen. François war ihr ein Vater gewesen. Sie hätte innehalten sollen. Einfach nur weinen. Sich von dem Schmerz, von der Trauer überwältigen lassen. Jetzt, auf der Brücke, als die Musik sich langsam flussabwärts verlor, konnte sie nicht mehr so tun, als sei alles unter Kontrolle.
Niemand schien die Frau zu bemerken, die weinend auf die Lichter der Stadt hinuntersah. Tränen, stellte sie fest, waren die beste Tarnung überhaupt. Es war die erste Lektion, die sie ohne François gelernt hatte, die erste nach über zwölf Jahren.
Zweiunddreißig
20:58 UHR
Jac trat auf die Terrasse und streckte die Hand nach dem Lichtschalter aus.
»Warte«, sagte Griffin. »Vielleicht reicht uns das Licht auch so.«
»Man kann von keinem der anderen Häuser in das Labyrinth hineinsehen.«
»In das Labyrinth? Glaubst du, Robbie ist im Labyrinth?«
Sie nickte. »Ich zeige es dir.«
Griffin reckte sich hoch auf und sah sich um. »Kann uns wirklich niemand sehen? Was ist mit dem Fenster da?«
»Das gehört zu unserem Haus. Die Bäume sind extra so gepflanzt worden, dass niemand außer uns in das Labyrinth hineinsehen kann. Vielleicht ändert sich das, wenn eines Tages in der Nähe ein Hochhaus gebaut wird, aber bis jetzt ist es nicht möglich.«
»Es ist trotzdem besser, das Licht auszulassen. Selbst wenn man uns nicht direkt sehen kann, bemerkt vielleicht jemand den Lichtschein. Sie müssen nicht unbedingt wissen, dass du spätabends noch im Garten bist.«
»Ich könnte ja frische Luft schnappen«, sagte Jac. »Es ist mein Garten. Was sollte daran verdächtig sein?«
»Versuchen wir es doch ohne.«
So stur Jac auch sein konnte, Griffin war schlimmer. Zorn wallte in ihr auf. Wie konnte es sein, dass sie nach all den Jahren wieder in die alten Rollenmuster verfielen? Die guten und die schlechten, die tröstlichen und die ärgerlichen. Jac hatte gedacht, die Kerben, die sie in der Seele des anderen hinterlassen hatten, könnten sich mit der Zeit glätten. Aber das hatten sie nicht. In kaum mehr als vierundzwanzig Stunden hatten sich Griffin und sie wieder genauso aufeinander eingespielt wie vor einem Jahrzehnt.
Es war Neumond und stockdunkel. Doch Jac hätte sich in den Gängen und Verzweigungen auch mit verbundenen Augen zurechtgefunden – mit ihrem Geruchssinn. Im Zentrum des Labyrinths wuchsen Rosen und Jasmin, und an der Intensität ihres Dufts erkannte sie immer, wo sie war.
Im Zentrum angekommen, ließ sich Jac auf die Knie nieder, schob die Kiesel beiseite und legte die Metallplatte frei, die sie am Nachmittag gefunden hatte.
In der Parfümerie gab es keine Taschenlampe, zumindest hatte Jac keine gefunden. Griffin hatte zwar immer eine kleine LED-Leuchte in seiner Aktentasche, doch die hatte er im Hotel gelassen. Alles, was sie hatten auftreiben können, waren die dicken, teuren, mit den Klassikern des Hauses aromatisierten Votivkerzen aus dem Laden.
Griffin hockte sich neben sie und riss ein Streichholz an. Als die Kerze brannte, ließ er ihr Licht auf den Kanaldeckel fallen.
»Der ist ja Hunderte von Jahren alt.« Er fuhr mit den Fingern die eingeprägte Jahreszahl nach.
1808.
»Wie konnte ich das vorhin nur übersehen?«, fragte Jac ärgerlich.
»Weil du nicht danach gesucht hast. Du hast nach Robbie gesucht.«
Was Jac allein unmöglich gewesen war, schafften sie zusammen beim ersten Versuch. Sie hoben den Deckel an und schoben ihn zur
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