Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
die Dächer zum Glockenturm der Kirche Saint-Germain hinüber. Die Aussicht hatte sich seit Hunderten von Jahren nicht verändert. Der Turm stammte aus dem zehnten Jahrhundert und war einer der ältesten der ganzen Stadt. Malachai sah auf die Uhr: fünfzehn Minuten nach neun. Er entkorkte eine Flasche Krug, die eisgekühlt für ihn bereitstand – ein Kärtchen mit einem Willkommensgruß stand an den silbernen Kühler gelehnt –, goss sich ein Glas davon ein und trat mit dem Champagner in der Hand auf den kleinen Balkon hinaus. Gerade in dem Moment läuteten die Kirchenglocken. Malachai beugte sich über das Geländer und lauschte den Tönen. Denselben Glocken waren die Gemeindemitglieder schon im Mittelalter gefolgt und in all den Jahrhunderten danach. Malachai nippte an dem sanft perlenden Getränk, schloss die Augen und versuchte, sich die vergangenen Zeiten vorzustellen. Es gelang ihm nicht. Wie sehrwünschte er sich, die Vergangenheit sehen, schmecken, hören zu können. Ihre Geheimnisse zu entdecken.
Das Glockengeläut verklang. Verkehrslärm drang zum Balkon herauf. Eine Taube gurrte. Malachai setzte sich auf einen Metallstuhl und holte eines seiner Handys hervor. Er gebrauchte immer zwei – eins, um selbst Anrufe zu tätigen, und eins, um für andere erreichbar zu sein. So war er schwerer aufzuspüren.
So schön die Suite auch war – der wahre Grund, warum Malachai sie buchte, war dieser Balkon. Hier konnte er sich ohne Sorge um Abhörgeräte frei unterhalten. Und er konnte unter seinem eigenen Namen reisen, wie es ihm am liebsten war. Sein Pseudonym sicherte ihm zwar die nötige Anonymität, brachte ihn aber um die Aufmerksamkeiten und die Vorzugsbehandlung, die er unter seinem eigenen Namen genoss.
Er wählte Winstons Nummer.
»Ich bin da«, sagte er dem Ex-Agenten.
»Gut. Wie war die Reise?«
»Ereignislos. Ist im Büro alles in Ordnung?«
»Ja, alles wie immer.«
Vor seiner Abreise aus New York hatte Winston Malachai noch keine Neuigkeiten zu ihrem Fall mitteilen können. Die Tonscherben, die zusammen mit Robbie L’Étoile verschwunden waren, waren in den Augen der Ermittlungsbehörden weder historisch noch finanziell von besonderer Bedeutung. Man hatte ihren Wert auf höchstens fünftausend Dollar geschätzt. Die französische Polizei hatte zwar eine Suchmeldung bei Interpol aufgegeben, doch da sie nicht ahnten, dass es sich um eine Erinnerungshilfe handeln könnte, waren die Scherben nicht als solche deklariert, und niemand war auf die Idee gekommen, Malachai vorsorglich zu beschatten. Jedes Mal, wenn er das Land verließ, bekam die Abteilung Kunstraub des FBI Meldung davon, doch seine enge Bekanntschaft mit der FamilieL’Étoile ließ einen Besuch in Paris unverdächtig wirken. Da die Schwester des Verschwundenen eine ehemalige Patientin von ihm war, lag es nahe, dass er ihr helfen wollte, den psychischen Stress zu verarbeiten, um Rückfällen vorzubeugen.
»Wie geht es Ihrem Neffen?«, erkundigte sich Malachai und fragte damit verschlüsselt nach Lucian Glass. Glass hatte bei den letzten zwei Diebstählen von Erinnerungshilfen die Ermittlungen geleitet. Er trug Schuld daran, dass Malachais Beziehung zu seiner Familie zerrüttet war, und hatte ihn bei der Phoenix Foundation in Verruf gebracht.
»Mein Neffe ist sehr beschäftigt. Hat überhaupt keine Zeit mehr für mich. Er hat einen neuen Job und eine neue Freundin; da kann ich wohl nicht mithalten.«
Malachai lächelte. Gut zu wissen, dass Glass ihm nicht nachspionierte. Zumindest noch nicht. »Wie schön für ihn.«
Nach dem Telefonat ging Malachai in das Wohnzimmer der Suite zurück und setzte sich an ein antikes Schreibpult. Er hatte noch zwei Stunden Zeit bis zu dem Treffen mit Winstons Mitarbeiter.
Er nahm seinen Montblanc-Füller und das schwere Briefpapier des Hotels zur Hand, um Jac mitzuteilen, dass er hier war und ihr helfen würde, wenn sie ihn brauchte. Doch der Tonfall stimmte nicht. Malachai zerriss seinen ersten Versuch und ließ die Fetzen in den Papierkorb fallen.
Als er Jac kennenlernte, war sie ein schlaksiges junges Mädchen und er ihr Therapeut. Ihr Altersunterschied hatte sich seitdem nicht verringert, spielte aber keine so große Rolle mehr wie damals. Sie war jetzt eine erfolgreiche Frau. Und noch immer einsam, verängstigt und hilfsbedürftig.
Der zweite Entwurf las sich schon besser. Malachai faltete den Brief und steckte ihn in einem Umschlag. Er rief bei der Rezeption an, um zu fragen, ob der
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