Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Abendluft. »Großvater hat behauptet, er hätte einen eigenen Zugang zu den Katakomben. Einen geheimen Einstieg, den wegen seiner versteckten Lage niemand so leicht entdecken würde. Robbie bettelte immer, er solle ihn uns zeigen.«
»Und hat er das?«
»Nein.«
Griffin stand auf, um sein Glas aufzufüllen. Jac hätte nie gedacht, dass sie ihm einmal hier begegnen würde. Doch er passte hierher. Schließlich war der ganze Raum eine Fundgrube der Erinnerungen. Auf den Tischen und Regalen standen Antiquitäten, die teilweise noch aus dem achtzehnten Jahrhundert stammten. Silberne Parfüm-Châtelaines zum Umhängen, die Jacs Ururgroßmutter gesammelt hatte. Eine große Auswahl emaillierter Schnupftabakdosen, zu der in jeder Generationneue hinzugekommen waren. Jacs Großmutter hatte eine Schwäche für mit Edelsteinen besetzte emaillierte Bilderrahmen gehabt. Überall an den Wänden sah man in Blumenranken gefasste Kristalle, gewellte Rahmen mit Markasitbesatz und durchbrochenes Gold mit Perlen. Einige der älteren Familienporträts hatten sogar Fabergé-Rahmen gehabt, die jedoch längst verkauft waren.
Auf dem Kaminsims stand eine goldene Uhr, auf deren Zifferblatt die Erde, der Mond, die Sonne, die Planeten und die Tierkreiszeichen zu sehen waren. Sie zeigte nicht nur die Uhrzeit an, sondern auch die Auf- und Untergangszeiten von Sonne und Mond.
Als Jac dieses Kunstwerk in einer abgelegenen Ecke eines Flohmarkts entdeckt hatte, war es kaputt gewesen. Obwohl Audrey sicher war, dass man die Uhr nicht reparieren konnte, hatte Jacs Großmutter sie gekauft. Sie hatte in einer ihr eigentümlichen Geste Audreys Hand getätschelt. »Es ist ein wunderschönes Stück«, hatte sie gesagt. »Wir kriegen sie schon wieder hin.« Und so war es.
Rechts und links der Uhr standen die von Robbie zusammengetragenen kleinen Obelisken aus Malachit, Bergkristall, Lapislazuli und Jade. Daneben stand eine Lalique-Schüssel voller grüner, blauer und milchig weißer Glasstücke, die das Meer rundgeschliffen hatte. Jac und ihre Mutter hatten sie von ihren Sommerurlauben in Südfrankreich mitgebracht. Alles hier steckte voller Erinnerungen.
»Könnte es sein, dass dein Großvater Robbie später doch den Eingang gezeigt hat?«
»Ja, natürlich. Nach meiner Abreise nach Amerika hat mein Großvater noch sechs Jahre gelebt und war bis zum Schluss sehr rüstig.«
»Wann wurde denn das Labyrinth angepflanzt?«
»Wann genau, meinst du? Das weiß ich nicht, aber hier drübensind Grundrisse von den Gebäuden und dem Hof.« Sie zeigte auf sechs gerahmte Stiche an einer der Wände. »Die sind von 1816, und auf dem Zweitletzten ist das Labyrinth zu sehen.«
»Also wäre es möglich, dass der Kanaldeckel im Labyrinth jener geheimnisvolle Eingang ist und dass dein Großvater ihn Robbie gezeigt hat?«
»Ja, ich denke schon.« Diese Idee überzeugte Jac. Und wenn ihr Bruder Zugang zu den Katakomben hatte, war er vielleicht wirklich in Sicherheit. »Wenn es unter unserem Haus eine Stadt der Toten gibt, wäre das ganz klar eins jener Mysterien, zu denen es Robbie immer hinzieht.«
Griffin starrte in sein leeres Glas. »Als ich ein Kind war«, sagte er, »habe ich mir immer gewünscht, als Erwachsener von Menschen umgeben zu sein, die voller Geheimnisse stecken.«
»Wirklich?«
Er nickte. »Inzwischen habe ich begriffen, dass wir alle unsere Geheimnisse haben. Meine kennst du größtenteils.«
»Das war einmal so, aber …« Jac brachte den Gedanken nicht zu Ende.
In das Schweigen hinein sagte Griffin: »Wir sollten ins Netz gehen und dort weitersuchen. Hast du hier einen Computer?«
Jac holte ihren Laptop von einem Schreibtisch in der Ecke. »Robbie hat dafür gesorgt, dass es im ganzen Haus WLAN gibt. Was brauchst du denn?« Sie gab ihm den Computer.
»Zunächst mal Lagepläne der Katakomben. Die werden sich schon finden. Wir müssen herausbekommen, was uns da unten erwartet, damit wir uns vorbereiten können. Je mehr wir im Voraus wissen, desto besser sind unsere Chancen auf Erfolg.«
Die nächste Stunde über saßen sie nebeneinander auf der Couch, sprachen wenig und lasen viel. Die meisten Informationen gab es auch auf Englisch, so dass Jac nicht viel übersetzen musste.
Anfangs hatte der unterirdische Steinbruch Paris mit dem Kalkstein für all die prachtvollen Villen, Boulevards und Brücken versorgt. Dann wurden die Hohlräume zur letzten Ruhestätte für über sechs Millionen Tote, die die überlasteten Friedhöfe nicht mehr aufnehmen
Weitere Kostenlose Bücher