Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
vergraben, sein Mund fand wieder ihre Schulter. Es durchzuckte sie. Seine Finger gruben sich tief in ihre Haut. Er war in ihr und umgab sie doch ganz. Jede Erinnerung weggewischt, war doch alles Erinnerung.
»Weinst du?«, flüsterte er.
Jac wusste es nicht. Sie wollte es nicht wissen. War das einer ihrer Anfälle? Was konnte es sonst sein? Dieser merkwürdigeWachtraum. So bitterschön. So voller Trauer. Eine andere, vergessene Zeit. Eine verlorene, wiedergefundene Liebe. Leidenschaft. Und Leid angesichts einer schrecklichen Gefahr.
Jac fröstelte. Griffin glaubte, sie erschauerte vor Lust, und drang noch einmal in sie ein. Wieder verlor sie sich darin. Es war noch dunkler, noch weicher. Alle Gerüche vereinten sich zu einem einzigen üppigen, hitzigen Duft. Sie war im Labyrinth. Er im Mittelpunkt. Sie wiegten einander – geübte Liebende, die diesen Tanz seit Jahrhunderten vollführten.
Nie gäbe es mehr Trauer, nie mehr Verlangen, weil sie sich nie mehr trennen würden. Dieser Akt besiegelte ihr Schicksal. Sie waren zwei Hälften, die sich gefunden hatten. Das Ganze, das sie bildeten, ließ keinen Raum für Luft oder Feuer, für Wasser, für den Atem. Sie waren zusammen. Fern der Gedanken, der Weisheit und der Worte. Zusammen, wie sie es immer gewesen waren, ewig, dachte Jac in einem Augenblick der Klarheit, bis eine Welle vollkommenen Vergessens über ihr zusammenschlug, wie es nur ein tiefer, schmerzhafter Höhepunkt schenken kann.
Fünfunddreißig
Auf der gegenüberliegenden Seite der Rue des Saints-Pères, im Hof eines Mietshauses aus dem neunzehnten Jahrhundert, parkte der dunkelblaue Smart im Schatten eines Kastanienbaums. William hatte diesen Parkplatz besorgt, hatte dem Concierge dreihundert Euro geboten, damit der ihm den Zahlencode für das Eingangstor gab. Nur zwei der Familien besaßen Autos, so dass drei Plätze immer frei blieben.
Trotz des Sichtschutzes, den der Baum ihr bot, ließ Valentine die Innenbeleuchtung aus und die Fenster geschlossen. Ihr Abhörgerät war so umgebaut, dass keine Lämpchen aufleuchteten. Die Kopfhörer waren eine Spezialanfertigung – selbst wenn William neben ihr saß, konnte er nicht mithören. Valentine hatte gelernt, vorsichtig zu sein.
Seit sie hier saß, war niemand gekommen oder gegangen. Offenbar blieben heute Abend alle zu Hause.
Valentine räkelte und streckte sich. Sie joggte jede Woche zehn Stunden. Dazu kamen fünf Stunden Kampfsporttraining. Sie ernährte sich makrobiotisch. Mit François’ Hilfe hatte sie ihren Körper in ein Werkzeug verwandelt, das ihr niemand nehmen konnte. Ihr einziges Laster waren die Zigaretten, von denen sie sich nie mehr als acht am Tag erlaubte.
Vier Stunden im Auto machten ihr nichts aus. Sie hatteschon neun Stunden ausgehalten. Doch damals hatte sie Erfolg gehabt. Heute sah es nicht danach aus.
Nach dem Abendessen im Café Marly war Valentine Griffin North und Jac L’Étoile zurück zur Parfümerie gefolgt. Zuerst hatte sie ihr Gespräch deutlich gehört, dann war es still geworden. Erst nach einer Stunde hatten die beiden wieder ein paar Sätze gesprochen, dann hatte Griffin Musik angemacht. Von da an hatte sie nur einzelne Fetzen des Gesprächs aufschnappen können. Nichts Verwertbares, wie es schien. Doch vielleicht würde sie später mehr verstehen, wenn sie die Aufnahme noch einmal abspielte.
Im Auto war es heiß und stickig, doch Valentine war darauf trainiert, sich von so etwas nicht ablenken zu lassen. Sie lauschte. Weil ihre Zielobjekte nur Englisch sprachen, musste sie sich dabei besonders konzentrieren. Und verstand besonders wenig. Valentine spürte selbst, dass ihr bei dem Wenigen, das sie hören konnte, die Nuancen entgingen.
Dass die beiden übereinander hergefallen waren, hatte sie dagegen deutlich herausgehört. Es hatte sie sogar ein wenig peinlich berührt. Sie selbst war vor vier Jahren zuletzt mit einem Mann zusammen gewesen – dem einzigen, seit François sie auf der Straße gefunden und ins Krankenhaus gebracht hatte.
Als es an die Scheibe klopfte, schrak Valentine zusammen und griff instinktiv nach ihrem Messer. Wie die Soldaten der chinesischen Bewaffneten Volkspolizei hatte sie viele Tötungstechniken mit und ohne Waffen gelernt. Und wie François zog sie das Messer den Schusswaffen vor. Das Messer, das sie jetzt am Gürtel trug, hatte ihr François bei ihrem Eintritt in die Triaden geschenkt. In die Klinge waren Drachen eingraviert. Die Lederbänder, die den Griff polsterten,
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