Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
Eindruck zu machen. Das Ale in seinem Glas war viel besser als Yanjing-Bier. Eine zweite Flasche könnte seine Nerven beruhigen. Doch er zwang sich, langsam zu trinken. Diszipliniert zu sein. Er konnte sich nur diese eine Flasche erlauben. Er durfte keine Risiken eingehen.
Xie hatte es die zwei Nächte davor vermieden, sich mit den anderen Studenten aus dem Hotel fortzuschleichen, doch der heutige Nachtclubbesuch war Teil einer von der Botschaft arrangierten Exkursion. Der Sohn des Botschafters zeigte den Künstlern das Nachtleben der Stadt. Sie hatten in einem typischen Pub gegessen und genossen jetzt den Abend in diesem Club.
Jedenfalls schienen die meisten ihn zu genießen. Xie machte sich Sorgen. Das zweihundert Gramm schwere Elektrogerät inseiner Tasche lastete auf seiner Seele. Genauso gut hätte er eine geladene Waffe mit sich herumtragen können. Der Besitz eines Handys war ihm verboten. Keiner der anderen Studenten hatte eins. Wenn jemand es fand, wäre er, wie Cali es aus alten amerikanischen Filmen im Internet aufgeschnappt hatte, ein toter Mann. Doch Xie hatte ebenso viel Angst davor, es loszuwerden, wie es zu behalten.
Er trank sein Bier aus und horchte auf, als die ersten Töne eines Rolling-Stones-Songs erklangen. Den kannte er.
I can’t get no … satisfaction …
Würde man das Handy am Flughafen überprüfen? Musste er es wie seine Schlüssel und sein Kleingeld bei der Sicherheitskontrolle in eine Wanne legen? Noch so eine Frage, die er unbedingt hätte stellen sollen. Doch Xie hatte sich so sehr erschrocken, als der Fremde ihm in der Herrentoilette des Museums den Mund zuhielt, ihn schweigen hieß und ihn in eine der Kabinen zerrte.
»Ich bin auf deiner Seite«, hatte der Mann gesagt und ihm das Telefon in die Hand gedrückt. »Wenn du in Schwierigkeiten bist, kannst du damit schnell Hilfe holen. Du musst nur, je nachdem, wo du bist, im Nummernverzeichnis London, Paris oder Rom wählen.«
»Ich darf …«
»Keine Zeit zu reden. Versteck das Telefon. Sei vorsichtig. Wir haben uns auf deiner ganzen Reiseroute verteilt. Um dir zu helfen. Also wasch dir jetzt die Hände und versuch ein bisschen von dem Rotwein wegzukriegen, damit alle sehen, warum du hier warst.«
Dann ließ der Mann Xie allein in der Kabine zurück.
Nun hatte er selbst in einem riesigen Saal voller Menschen, voller Rauch und Musik und Alkohol das Gefühl, das Handy würde ihm die Luft zum Atmen nehmen. Es konnte ihm das Leben retten, das wusste er. Doch es konnte auch dafür sorgen,dass er Paris nicht lebend erreichte. Wenn sein Zimmergenosse in seinen Sachen herumwühlte und es fand … wenn das Flughafenpersonal es herausholte und die anderen es sahen …
»Du siehst so ernst aus«, sagte Lan und setzte sich neben ihn. So offensiv kannte Xie sie gar nicht. Aber er hatte sie auch noch nie nach ihrem dritten Bier erlebt.
»Ich sehe ein bisschen zu. Höre Musik.«
Lan rückte näher an ihn heran. Der Geruch ihres Haars erinnerte ihn an irgendeine Frucht, aber er wusste nicht, welche.
Jetzt wurde wieder ein Beatles-Song gespielt:
Here Comes the Sun
. Den kannte Xie ebenfalls und mochte ihn. Cali hätte sich jetzt sicher gefragt, ob die Botschafter den Club angewiesen hatten, ein paar ältere Stücke einzustreuen, damit die Chinesen sich wohlfühlten. Es überraschte ihn, wie sehr ihm ihre skeptische Art in Fleisch und Blut übergegangen war. Immer wieder stellte er sich vor, wie sie auf seine Erlebnisse reagieren, was sie an seiner Stelle fragen würde. Diese Reise war die erste längere Trennung von Cali seit zwei Jahren. Er war so lange ohne enge Freunde ausgekommen, dass es ihm erst jetzt auffiel, wie viel sie ihm bedeutete – zu spät. So sicher er auch war, dass er den Weg gehen musste, der ihm vorgezeichnet war – er würde seine Freundin vermissen.
»Ich glaube, ich hätte Lust zu tanzen«, sagte Lan verlegen.
Sie rückte so dicht heran, dass Xie das Bier in ihrem Atem roch.
»Mit dir«, fügte sie hinzu. »Ich habe noch nie mit jemandem getanzt.«
Xie hatte nichts dagegen zu tanzen, aber Lan war ziemlich angetrunken. Was, wenn sie ihm zu nahe kam und das Telefon in seiner Tasche spürte? Was, wenn er ausrutschte oder sich zu weit vorbeugte und es herausfiel? Aber was hätte er Lan antworten sollen? Wenn er es ablehnte, würde sie ihm vielleichteine Szene machen. Sie war sonst ein ruhiges, vernünftiges Mädchen, doch heute mochte sie anders reagieren.
Egal, was er tat, es konnte falsch sein. Also würde er
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