Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
es halten wie so oft und den Weg des geringsten Widerstands gehen. Sich anpassen. Keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Als er Lan auf die Tanzfläche folgte, bemerkte Xie, dass Ru Shan ihnen nachsah. Bildete er es sich nur ein, oder beobachtete Ru ihn? Er war einer der besten Kalligraphen, die Xie kannte, ein Wunderkind, dessen Werke so außergewöhnlich waren, dass er schon mit zwölf entdeckt worden war. Xie bewunderte seine Arbeit schon lange. Und das hatte er ihm auch gesagt, als den beiden ein gemeinsames Zimmer zugewiesen worden war. Ru hatte nur genickt. Cali wollte von Xie immer viel detailliertere Beschreibungen hören, als er sie von sich aus geliefert hätte. Er stellte sich vor, wie sie ihn drängte, ihr alles über Ru zu erzählen. Er war schlank, fast zierlich. Seine Handbewegungen waren stets anmutig, selbst wenn er nur eine Tür öffnete oder ein Glas hob. Seine Augen sprühten vor Intelligenz. Und er redete gern. Nicht über Kunst, was Xie gefreut hätte, sondern über Frauen.
»Die haben mir schon gesagt, dass du den Mund nicht aufkriegst«, beschwerte Ru sich, als Xie zu seinem brühwarmen, von Obszönitäten gespickten Bericht über eine aus der Hotelbar abgeschleppte Britin nicht viel beizusteuern hatte.
»Wer hat das gesagt?«, hätte Xie gern gefragt. Hatte Ru sich verplappert? Oder hatte er nur die anderen Kunststudenten gemeint, die Xie von der Hochschule kannten? Doch er durfte nicht fragen. Ihm blieb nichts übrig, als den Verdacht für sich zu behalten und darunter zu leiden.
Xie begann mit Lan zu tanzen und behielt dabei Ru im Auge.
Lan kam ihm immer näher. Xie registrierte geistesabwesend die Berührungen ihrer Schenkel und Brüste, am meisten beschäftigteihn jedoch das Telefon. Lan hatte den Kopf dagegengelehnt und presste es gegen seine Brust.
Mit halb geschlossenen Augen sah sie zu ihm auf.
»Du bist ein toller Tänzer«, sagte sie mit einem Lächeln. »Soweit ich weiß jedenfalls. Ich habe ja keinen Vergleich.« Lan kicherte.
»Danke sehr«, sagte Xie und vollführte eine Drehung, um sie abzulenken. Spürte sie das harte Rechteck in seiner Tasche? Und wenn ja, würde sie ihn danach fragen? Was sollte er dann sagen?
Als er sich umsah, bemerkte er, dass auch Ru sich mit seiner Partnerin gedreht hatte, so dass er Xie wieder sehen konnte. Ein Zufall vermutlich. Oder nicht? Xie wusste es nicht.
Siebenunddreißig
PARIS, FRANKREICH
DONNERSTAG, 26. MAI, 23:15 UHR
Es war zu einer Art Ritual geworden, dass Malachai am ersten Abend seines Aufenthalts in Paris die Hemingway Bar im Ritz besuchte. Sein Vater hatte ihn an seinem achtzehnten Geburtstag hierher ausgeführt, um ihm seinen ersten Drink und seine erste Zigarre zu spendieren. Es war eine der wenigen positiven Erinnerungen an den distanzierten alten Herrn, der sonst kein gutes Haar an seinem Jüngsten ließ.
An jenem Abend hatte Malachais Vater es sogar geschafft, den von ihm vergötterten älteren Bruder aus dem Spiel zu lassen, der viel zu jung gestorben war. Bis es Zeit wurde, aufzubrechen, und er sagte: »Dein Bruder hätte sich hier sehr wohlgefühlt.«
Heute war es in der Bar nicht so voll wie sonst. Die Rezession, dachte Malachai. Der kleine, holzvertäfelte Raum wirkte behaglich und exklusiv. Auf den Regalen standen Ausgaben von Hemingways Romanen. Gerahmte Zeitungsausschnitte und Fotografien von »Papa«, wie die Fans den Schriftsteller nannten, hingen an den Wänden. Es war fast wie ein einziger großer Heiligenschrein, aber nicht nur dem Mann gewidmet, sondern auch seiner Liebe zu guten Drinks. Colin Field, seit über zwei Jahrzehnten der Barchef, war für seine großzügigen Opfergaben berüchtigt – darunter ein Cocktail mit einem äußerstselten Cognac, der mehr kostete als manches Menü eines Drei-Sterne-Restaurants.
Malachai schob sich auf einen der mit Leder bezogenen Barhocker und begrüßte den Mann hinter dem Tresen.
»Dr. Samuels, ich freue mich, Sie wiederzusehen.«
»Gleichfalls, Colin.«
»Was darf ich Ihnen bringen?«
»Ich hatte im Hotel schon ein Gläschen Krug«, sagte Malachai. »Also überlasse ich Ihnen die Wahl.«
Kurz darauf stellte Field ein Cocktailglas vor Malachai ab, der es anhob und andächtig daran nippte.
»Grapefruitsaft, Champagner und … ich komme nicht drauf.«
Der Barchef lächelte. »Ein Schuss Gin.« Er servierte Malachai einen kleinen Teller mit Oliven, Nüssen und Kartoffelchips. »Was führt Sie nach Paris? Sind Sie geschäftlich oder zum Vergnügen
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