Das Haus der verlorenen Düfte: Roman (German Edition)
waren mit den Jahren weich geworden.
Solche Messer hatten Mönche vor Jahrtausenden unter ihren Kutten getragen und sie nur an der Spitze geschärft, um siezur Selbstverteidigung einzusetzen. Valentines Klinge war von der Spitze bis zum Heft tödlich scharf.
Als sie sah, dass es nur William war, entspannte sie sich wieder und entriegelte die Türen.
William stieg ein und reichte ihr einen Pappbecher mit heißem Tee. Valentine bedankte sich. Sie hatte eine lange Wache hinter sich, und der Tee würde ihr guttun. Als sie den Deckel abnahm, beschlugen die Scheiben.
»War viel los?«, fragte William.
Sie nippte an ihrem Tee und begann zu erzählen. Es war merkwürdig, ohne François in Williams Nähe zu sein, zu zweit statt zu dritt. Vielleicht hätte sie jemand Drittes dazuholen sollen. Das Team bestand noch aus vier weiteren Leuten, die sie jederzeit herbeordern konnte.
»Was glauben sie, wo Robbie L’Étoile ist?«, fragte William. »Haben sie was gesagt?« Er wirkte fahrig und hatte dunkle Ringe unter den Augen.
»Nein, aber sie waren eine Weile unterwegs, um ihn zu suchen.«
»Ich habe auf dem Weg hierher unsere Männer gefragt. Seit sie vom Essen gekommen sind, haben sie das Haus nicht wieder verlassen.«
»Dann haben sie einen anderen Ausgang benutzt.«
»Wir haben vor beiden Zugängen Leute postiert. Ich weiß schon, wie man jemanden observiert.«
»Aber sie waren weg.«
»Es gibt keinen anderen Ausgang«, sagte William. »Ich bin mir sicher.«
»Nach dem, was die beiden gesagt haben, ist es eindeutig, dass sie unterwegs waren und ihn gesucht haben. Du musst herausfinden, wo.«
»François würde nie so herumdiskutieren. Ich weiß schon, was ich tue.«
Die Trauer. Der Verlust. Valentine wusste, wie er sich fühlen musste. »Ich vermisse ihn auch.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte William.
»Es ist nicht leicht, sich auf seinen Job zu konzentrieren, wenn einem die Gefühle in die Quere kommen. Aber dass du ihn vermisst, gibt dir nicht das Recht, Mist zu bauen.«
»Moment mal. Ich habe keinen Mist gebaut.«
»Und wo waren sie dann?«
»Du hast doch überhaupt keine Ahnung. Was weißt du schon von Liebe? Du kleine Nutte! Wenn François dich nicht von der Straße geholt hätte, wärst du längst tot. Er hat mir gesagt, wie emotional verkrüppelt du bist. Eine Soziopathin, die …«
Valentine kippte William den Tee ins Gesicht. Er hustete und spuckte.
»Du bist doch irre«, schnaubte er.
Valentine kramte ihre Zigaretten aus dem Rucksack und steckte sich eine an. »Es ist spät. Geh nach Hause, William. Heul dich aus. Ich komme allein zurecht. Und ich werde nicht zulassen, dass du mit deinen Überreaktionen alles vergeigst.«
William wischte sich den Rest Tee ab. »Wenn es wirklich noch einen Ausgang gibt«, sagte er, »dann finde ich ihn.«
»Wir verschwenden unsere Zeit. Warum schnappen wir uns nicht einfach seine Schwester? Dann kommt L’Étoile von allein. Er würde alles tun, um sie zu retten.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte William.
»So ist das in einer Familie. Oder habe ich davon etwa auch keine Ahnung?«
»Selbst wenn das funktionieren würde, hätten wir keine Chance, an sie heranzukommen. Sie wird Tag und Nacht von der Polizei observiert.«
»Seit wann ist das ein Problem?« Valentine betrachtete Williams Profil. Die vorstehende Nase. Das fliehende Kinn. Hängendes Fleisch, wo sein Alter sich bemerkbar machte. Françoiswar immer hager geblieben. Hungrig. Valentine sog Rauch in ihre Lungen. »Du Weichling.«
»Fick dich!« William hieb mit der Faust auf das Armaturenbrett. »Das reicht jetzt.«
Sie atmete aus. »Da warten Leute auf uns, die es nicht mögen, wenn man sie warten lässt. Je länger wir rumlavieren, desto größer wird die Gefahr, dass die Scherben in die falschen Hände geraten. Und dann stehen wir dafür grade.«
Blauer Rauch füllte den Wagen. Blau wie François’ Musik.
Sechsunddreißig
LONDON, ENGLAND
DONNERSTAG, 26. MAI, 22:00 UHR
Innerhalb der letzten Stunde hatte Xie eine Beatles-Ballade und einen Song von Green Day erkannt, aber sonst nichts. Er hatte keine Ahnung, was der DJ gerade spielte. Auch in China gab es westliche Musik, doch es dauerte lange, ehe sie dort ankam. Was jetzt aus den Lautsprechern dröhnte, musste neu sein. Xie war dankbar für die ohrenbetäubende Lautstärke der Musik – so musste er keinen Smalltalk betreiben. Er konnte einfach dasitzen, an seinem Bier nippen und sich bemühen, einen entspannten
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