Das Haus der verlorenen Kinder
wenn sie noch wacher ist, dann zuckt sie zusammen und kreischt und schreit nach ihrer Mutter, weil er nicht da sein sollte; er sollte überhaupt nicht in ihrer Nähe sein. Wenn sie wach ist, dann erinnert sie sich nicht an den lieben Dad, den, der mit ihr gekuschelt, sie gebadet und sie mit zu den Schaukeln im Brockwell Park genommen hat. Das alles ist durch zusammengebissene Lippen und betonharte Fäuste ausgelöscht. Nur in ihren Träumen kommt er zurück: wärmt sie, beschützt sie und löst in ihr eine beunruhigende Verwirrung aus.
Jetzt, da sie in Carols großem weichem Bett schläft, hört sie die Stimme ihrer Mutter, nimmt sie aber mehr wie einen Traum als eine wirkliche Störung wahr. Erst kürzlich hat sie das mit den Träumen begriffen, obwohl sie häufig träumt. Und sie nimmt vage wahr, dass ihre Mutter hinter der Schlafzimmertür weint, aber sie weint in letzter Zeit so häufig, dass das Geräusch für Yasmin schon fast zum Alltag gehört. Sie dreht sich unter Carols Bettzeug von Brixton Market um und driftet wieder in den Schlaf.
In Carols Wohnküche – sie wohnt im ausgebauten Dachboden des Hauses, in den ehemaligen Unterkünften der Dienstboten, überall Dachschrägen und Einbauschränke – kauert Bridget auf dem Sofa und umklammert ein zusammengeknülltes Stück Küchenpapier. »So sollte es nicht laufen«, schluchzt sie. »So sollte es wirklich nicht laufen.«
»Natürlich nicht«, sagt Carol, die gerade den Kopf in den Kühlschrank steckt. »Ich glaube nicht, dass es einen einzigen Menschen in dieser Straße gibt, der sich als Kind sein künftiges Leben so vorgestellt hat. Ich jedenfalls nicht. Ich wollte reich sein, wie es im Fernsehen alle sind. Und verheiratet. Ein großes Haus in Esher haben. Mehrere Kinder. Mitglied im Fitnessclub sein …«
»Das kann ich mir bei dir gut vorstellen«, sagt Bridget.
»Können wir das nicht alle? Soll das nicht eigentlich bei allen Stewardessen der Fall sein, bevor sie in den Ruhestand gehen? Davon war ich immer überzeugt. Und meine Mum ebenfalls. Eindeutig. Das war, als ich angefangen habe, ein Beruf mit hervorragenden Aussichten. Bestem Zugang zur Welt der Vielflieger. Damals hat kein Mensch etwas von Renten und Hypotheken gesagt. Meine Rente sollte mir automatisch mit der Heiratsurkunde gesichert sein.«
»Aber du bist doch noch gar nicht im Rentenalter«, stellt Bridget fest.
»Meine Liebe«, entgegnet Carol, »wenn du vierzig bist und einen Trolley schiebst, könntest du genauso gut fünfundsechzig sein. Der Anblick von Krampfadern und einem Kakao am Abend passt nicht zum Image der meisten Fluglinien.«
Sie findet, wonach sie sucht, taucht auf und hält es hoch. »Da ist er ja!«, stellt sie fest. »Kakao für Erwachsene. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt Spinat kaufe. Der braucht immer so viel Platz, dass ich den Wein nicht finde, und ich esse ihn ja nie, bevor er schlecht wird.«
»Was soll ich bloß machen?«
»Mit Brokkoli ist es das Gleiche«, sagt Carol und macht sich mit dem Korkenzieher zu schaffen. »Ich kaufe ihn nur, damit mein Kühlschrank nach gebrauchten Handtüchern riecht.«
Sie bringt die Flasche und zwei Saftgläser – ihre Spüle mit der ausladenden Mischarmatur ist so klein, dass sie es schon lange aufgegeben hat, Weingläser mit zerbrechlichen Stielen zu kaufen – zum Sofa hinüber, schenkt ein und wartet, bis Bridget sich geschnäuzt und die Mascara-Spuren von den Wangen gewischt hat. »Hier, für dich.« Sie reicht ihr ein Glas. »Jacob’s Creek. Mutters kleiner Tröster.«
Bridget nimmt das Glas, trinkt einen großen Schluck und sagt: »Danke. Eigentlich sollte ja ich dir als Dankeschön Wein spendieren.«
»Ist schon gut, Darling«, entgegnet Carol. »Es ist ein Vergnügen, auf sie aufzupassen, das weißt du.«
»Ja, aber …« Wieder steigen Bridget Tränen in die Augen.
»Hör auf, Bridget«, sagt Carol streng. »Es hat doch keinen Sinn. Das Heulen ist reine Energieverschwendung. Es ändert kein Jota am Ausgang der Dinge.«
Bridget schnieft. »Tut mir leid. Ich bin müde.«
»Stimmt«, sagt Carol. Zwischen ihnen besteht eine stillschweigende Übereinkunft, dass sämtliche emotionalen Zusammenbrüche von Bridget – und Carol – als Müdigkeit abgetan und mit Weißwein geheilt werden.
»Was ist bloß mit mir passiert?«, fragt sie zum tausendsten Mal.
»Kieran ist passiert«, antwortet Carol. »Du weißt das, und ich weiß das. Der einzige Mensch, der das nicht zu wissen scheint, ist Kieran. Du warst
Weitere Kostenlose Bücher