Das Haus der verlorenen Kinder
Figurinen und Ölgemälde der umliegenden Landschaft vorfinden.
»Jetzt aber«, murmelt er, während er durch das Speisezimmer geht und feststellt, dass sie schon wieder umgedreht wurden: Mit heruntergezogenen Mundwinkeln starren Charles II., Prinz Albert und Disraeli mit Blick auf den Spiegel über der Anrichte stur geradeaus.
Daran ist er inzwischen gewöhnt. Seit seiner Kindheit passiert das immer wieder – er erinnert sich, wie seine Großmutter vor sich hin gemurmelt hat, so, wie er es jetzt tut, wenn er die Figuren wieder umdreht –, und dass die starren und missbilligenden Gesichter im Spiegel nun nicht mehr wie damals, als er noch ein fantasievoller Teenager war, die Macht besitzen, bei ihm ein Kribbeln im Nacken auszulösen. Im Laufe der Jahre hat die Familie alles ausprobiert – Posterstrips, sogar Sekundenkleber –, aber nichts scheint sie an Ort und Stelle zu halten. Es ist eben eine der Besonderheiten dieses Hauses. Ein weiterer Grund, warum kein Familienmitglied es haben wollte, als Großmama 1975 am Fuß der hinteren Treppe ihren einsamen Alkoholikertod starb.
Er hat den Rest von Frances Tylers Habseligkeiten in eine Mülltüte verstaut und trägt sie zum Schuppen hinaus. In der Tüte befinden sich Kleidungsstücke, Schuhe und andere Sachen, die eigentlich nicht in die Feuchtigkeit hier draußen gehören, aber er ist der Meinung, dass sie genau das verdient hat, nachdem sie ihn so Knall auf Fall im Stich gelassen hat. Sie ist schuld daran, dass das heute für ihn ein verdammt langer Tag war, an dem er vergeblich auf zwei Bewerber und die einzige Interessentin hatte warten müssen, die schließlich aufgekreuzt ist, und er wird froh sein, wenn er von hier wegkommt. Nach Einbruch der Dunkelheit wird es in diesem Haus nicht gerade besser. Als er und seine Schwester noch Kinder waren, hatten sie sich immer geweigert, nach Sonnenuntergang hierher zu kommen; sie waren richtig hysterisch geworden, obwohl ihnen gestattet wurde, zusammen in einem Zimmer zu schlafen, wenn ihre Eltern sie für eine Nacht hierlassen wollten. Nicht etwa, dass das häufig der Fall gewesen wäre: Selbst im Alter von fünf Jahren wusste er bereits, dass mit Granny irgendetwas nicht ganz in Ordnung war. Jetzt erinnert er sich, warum: Es liegt nicht nur daran, dass es auf Rospetroc viele dunkle Ecken gibt und Schatten, die sich rätselhafterweise bewegen; es sind auch die Geräusche. Getrippel und Gemurmel; seltsames Klappern in anderen Zimmern und Geraschel, als streiche Seide über Seide.
In alten Gemäuern gibt es immer Geräusche. Das weiß er nur zu gut, nachdem er sein ganzes Leben in solchen gewohnt hat. Aber sein eigenes Haus gibt Geräusche der Anpassung von sich: Ein Ächzen und ein dumpfes Klopfen, wenn es sich mit der Wärme oder Kälte ausdehnt oder zusammenzieht; das Knarren eines losen Dielenbretts, das Ruckeln von Fensterrahmen im Wind. Nicht diese erwartungsvolle Stille, die den Schluss nahelegt, dass sich jemand hinter der nächsten Ecke versteckt, den Atem anhält und nur darauf wartet, hervorzustürzen. Nicht das Gefühl, jemand spähe hinter den Vorhängen hervor und unterdrücke sein Lachen.
Wird sie durchhalten?, fragt er sich. Ich kann das nicht alle paar Monate durchmachen. Sie scheint … es scheint etwas zu geben, womit sie hinter dem Berg hält, das ist mal sicher. Wird sie das Haus ausräumen und verduften? Oder gehört sie nur einfach zu jenen Menschen, die vor irgendetwas davonlaufen? Dieser Job lockt seltsame Vögel an. Normale Leute würden das nicht auf sich nehmen: die Abgeschiedenheit, die unablässige Schufterei, für Sauberkeit zu sorgen und jener Sorte von Menschen gegenüber diskret und tolerant zu sein, die wir hier manchmal als Gäste haben. Und für ehrgeizige Leute ist der Lohn nicht hoch genug.
Sie hatten schon eine Menge Angestellte, und keiner ist geblieben, nicht mal die Ehepaare. Schriftsteller, Künstler, enteignete Farmer aus Zimbabwe, Hippies, Leute mit Ambitionen im Touristikbereich, Aussteiger, Geschichtsfreaks, Schulhausmeister im Ruhestand, Osteuropäer, für die fünfhundert im Monat plus Unterkunft samt Nebenkosten wie ein Vermögen geklungen haben muss. Doch einer nach dem anderen hat gekündigt (oder wie im Fall von Frances Tyler auch nicht), seine Siebensachen gepackt und sich in Richtung Zivilisation aufgemacht. Sie haben in den meisten Fällen Chaos hinterlassen – kaputte Sachen und Schmutz, zerwühlte Betten und unverschlossene Türen – und verbreiteten dann im
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