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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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Sie kann doch nicht einfach …
    Von oben ist nichts zu hören. Keine Schritte, keine Bewegungen. Er lauscht angestrengt, lenkt den Strahl der Taschenlampe durch das Loch in der Decke.
    Nichts.
    Es gibt keinen Ausweg.
    Doch, es gibt einen, sagt ihm sein immer langsamer arbeitender Verstand. Die Türen: diejenigen, die zum See führen. Sie reichen nie bis ganz auf den Grund, weil sie sonst viel zu schwer zu öffnen wären. Ich kann darunter hindurchschwimmen. Ich kann darunter durchtauchen und hinausschwimmen und … Ich weiß nicht, was ich danach tun werde, aber ich muss hier raus.
    Er bahnt sich langsam und unter Schmerzen den Weg an dem Dock entlang. Ich kann kaum schwimmen. Dieses Bein gehorcht mir nicht richtig. Wenn ich draußen bin, werde ich auf allen vieren kriechen müssen. Über diesen schneebedeckten Rasen kriechen müssen. Die Tür da wird nicht lange halten, wenn ich dagegen trete, und nachgeben. So werde ich ins Haus kommen. Sie wird zulassen müssen, dass ich dort bleibe. Unbedingt. Von mir aus kann sie die Bullen rufen. Das ist mir egal. Sie kann mich nicht hier im Freien lassen.
    Die Tür fühlt sich unter seiner Hand rau an. Er hält sich an der Kreuzverstrebung fest und versucht, ruhig durchzuatmen. »Hallo?«, ruft er noch einmal, ohne Hoffnung zu haben. Nimmt einen tiefen Atemzug der eisigen Luft und taucht unter.
    Das Wasser ist schwarz und zähflüssig. Kieran zieht sich tiefer, immer tiefer, eine Hand unter der anderen, tastet er nach dem unteren Rand. Ihm kommt es sehr tief vor. So tief kann die Tür doch gar nicht reichen. Eine Hand nach der anderen die Kreuzverstrebung hinab: das gleiche schwammige, bleierne Gefühl wie bei den Treppenstufen. Er schlägt gegen die Barriere, spürt, dass seine Hand sie durchstößt. Verfault. Sie ist verfault wie der ganze Rest.
    Er lässt los. Driftet nach oben. Taucht auf und schnappt erleichtert nach Luft.
    Mein Gott, mir ist so kalt. Dieses Wasser saugt die Wärme aus mir heraus. Jetzt spüre ich sie tief in meinem Inneren, diese Schwärze. Tentakeln, die aus meinem Bauch herausragen und mich verzehren. Ich werde nicht mehr lange bei Bewusstsein bleiben. Ich muss jetzt los.
    Er atmet sehr tief ein, ein Mal, zwei Mal und taucht beim dritten Mal unter. Taucht hinab. Immer tiefer. Ich kann nicht wieder hochkommen. Das ist meine letzte Chance.
    Er hält sich an der Kreuzverstrebung fest, tritt mit seinem unversehrten Fuß gegen die Tür. Ja. Ich spüre es. Sie gibt nach. Sie …
    Ein Knacken, vom Wasser gedämpft. Ja. Sie ist kaputt. Ich hab’s geschafft. Ich kann … vielleicht sollte ich nach oben schwimmen. Noch einmal Luft holen.
    Nein. Weiter. Weiter. Du kannst auf der anderen Seite Luft holen.
    Er lässt sich wieder hinab, schiebt sich bis zur Öffnung vor. Macht mit den Armen zwei Schwimmzüge.
    Irgendetwas hält ihn fest. Eine Gürtelschlaufe, ein Nagel. Er kommt überhaupt nicht vorwärts.
    Nein. Neinneinneinnein …
    Panik. Rot, Schwarz, alles verschlingend.
    Lass mich los. Lass mich los. Ich werde mich entschuldigen. Ich nehme alles zurück.
    Er schlägt im Wasser um sich, versucht sich umzudrehen, dem Feind ins Gesicht zu blicken. O mein Gott, o mein Gott. Ich darf nicht schreien. Darf meine Luft nicht vergeuden.
    Er spürt, wie die Sekunden verrinnen. Spürt, wie die Luft in seinen Lungen brennt, sich die Luftröhre zusammenzieht. Schlägt wie wild um sich. Lässt die Taschenlampe fallen, als er hinter sich tastet.
    Das Holz gibt nach. Der Nagel löst sich. Er ist frei.
    Vorwärts. Jetzt. Vorwärts.
    Kieran schiebt sich mit den Händen an, stößt sich mit seinem guten Fuß von der Tür ab. Macht einen Schwimmzug.
    Gelangt zum Eis. Auf dem See. Dick und hart, aber das war ja abzusehen, weil die Luft im Freien immer kälter ist als in einem geschlossenen Raum.

59
    Yasmin befreit sich aus dem Knäuel, zu dem ihre Mutter sie zusammengerollt hat, weil sie sie beide wegen der Kälte in eine Daunendecke und einen Bettüberwurf eingewickelt hat. Kaltes Licht, das am Rand der Vorhänge hereinfällt, lockt sie ans Fenster. Sie hat jetzt keine Angst mehr. In der Nacht hat sich irgendetwas verändert, sie spürt es, und sie hat keine Angst mehr. Irgendwann in der Nacht hat sich ihre Mum der Erschöpfung geschlagen gegeben. Jetzt schläft sie wie eine Tote, ihr Mund ist leicht geöffnet, der Kopf liegt auf ihrer Schulter.
    Sie duckt sich unter dem Vorhang durch, steigt hoch und kniet sich auf den Fenstersitz, fährt mit den Fingern über die Eisblumen,

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