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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serena Mackesy
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die sich an der Fensterscheibe gebildet haben. Die Wolken haben sich verzogen, und das morgendliche Sonnenlicht bricht den Schnee in Milliarden goldener Splitter. Sie kann die schwachen, vom frisch gefallenen Schnee aufgefüllten Spuren sehen, wo er über den Weg zur Haustür gegangen ist, wo er sich von Fenster zu Fenster am Haus entlang vorgearbeitet hat. Der Garten ist ansonsten unberührt, jungfräulich, so wie gestern, als sie aufgestanden ist.
    Ein Ast der Ulme zittert, schüttelt mit einem Ruck träge seine Last ab.
    Sie kann sie spüren. Die Stille. Was immer es auch war, was immer ihnen gestern Abend eine solche Angst eingejagt hat, es ist vorüber.
    Sie braucht einen Moment und muss wegen der Helligkeit des Schnees die Augen zusammenkneifen, bis sie bemerkt, dass Lily beim Gartentor steht. Sie hat ihr Abendkleid an. Sie lächelt und winkt.
    Leise, ganz leise, öffnet Yasmin den Fensterflügel, beugt sich hinaus, und die Luft fühlt sich an, als sei das der Anbeginn der Welt.
    »Pst«, flüstert sie. »Meine Mum schläft noch.«
    Lily huscht durch den Garten, bleibt unter dem Fenster stehen.
    »Ich bin gekommen, um Auf Wiedersehen zu sagen«, erklärt sie.
    Yasmin verspürt einen kleinen Stich, das erste winzige Anzeichen des Verlusts.
    »Wo gehst du denn hin?«
    »Nach Portsmouth«, antwortet Lily. »Ich muss meine Mum suchen. Sie wird mich vermissen.«
    »Geh nicht!«, sagt Yasmin.
    »Es ist Zeit«, antwortet Lily. »Jetzt darf ich gehen. Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut.«
    »Aber mit wem soll ich mich unterhalten?«, fragt Yasmin.
    Lily wirft den Kopf in den Nacken und lacht. »Tja, jedenfalls nicht mit mir, das ist mal verdammt klar.«
    »Aber …«, entgegnet Yasmin.
    Lily schüttelt den Kopf.
    »Ich gehe jetzt«, sagt sie. »Ich kann gehen, verstehst du?«
    »Ach«, antwortet Yasmin. Ihr fehlen in dieser Situation die Worte. Sie weiß nicht, was sie sagen soll.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagt Lily. »Jetzt wird alles gut. Er kann dir nicht mehr wehtun. Das ist vorbei.«
    »Und wie willst du deine Mum finden?«, fragt Yasmin. »Portsmouth ist eine große Stadt.«
    Lily zuckt mit den Achseln. »Keine Ahnung. Das werde ich vermutlich herausfinden, wenn ich dort bin.«
    »Kommst du wieder zurück? Wenn du sie nicht findest?«
    »Du machst wohl Witze«, sagt Lily. »Ich komme nie, nie mehr hierher zurück.«
    Yasmin spürt, dass ihr Tränen in die Augen steigen.
    »Aber was ist mit mir?«
    »Lass es gut sein«, antwortet Lily. »Du hast ja deine Mum. Ich habe hier jetzt nichts mehr zu tun. Ich muss gehen und herausfinden, was ich noch habe.«
    Sie dreht sich um und huscht zum Gartentor zurück. Geht hindurch und den Hügel hinauf. Der Schnee scheint sie überhaupt nicht zu behindern. Sie schwebt darüber hinweg, als ob es dickes weißes Eis wäre. Yasmin stützt den Ellenbogen auf den Fenstersims, legt das Kinn auf die Hand und schaut ihr nach. Als Lily etwa dreißig Meter zurückgelegt hat, bleibt sie stehen, dreht sich um und blickt sie wieder an.
    »Mädchen!«, ruft sie. »Mach nichts, was ich nicht auch machen würde!«
    Als sie am Gipfel des Hügels ankommt und hinter der Bergkuppe in das blauweiße Nichts verschwindet, schließt Yasmin das Fenster. Sie steigt vom Fenstersitz herunter und tapst über den Teppich. Zupft an der Schulter ihrer Mutter.
    »Wach auf, Mummy«, sagt sie. »Wach auf.«
    Bridget, die immer noch tief schläft, schreckt auf, streckt sich und nimmt sogleich wieder die defensive Kauerhaltung von gestern Abend ein.
    »Es ist gut, Mummy«, erklärt Yasmin. »Es ist alles in Ordnung.«
    Sie schläft noch halb, kann die Augen nicht richtig fokussieren; schaut sich mit einem Blick um, der halb verwirrt, halb erstarrt wirkt.
    Yasmin geht auf die Knie und schlingt die Arme um ihren Hals. Hält sie, tröstet sie, bläst ihr den warmen Kinderatem ins Haar. »Es ist gut«, murmelt sie. »Jetzt sind wir sicher.«
    Sie spürt, dass eine Hand angehoben wird und ihr über den Hinterkopf streicht. Bridget hebt den anderen Arm und wirft einen Blick auf ihre Uhr. Es ist kurz nach acht. Sie sind jetzt seit zehn Stunden hier drin, haben gewartet, und irgendwann muss die Erschöpfung sie übermannt haben, dazu geführt haben, dass sie in den frühen Morgenstunden in einen traumreichen Schlaf fiel, als stünde sie unter Morphium.
    Ich habe es wieder und wieder durchlebt. Er ist durch die Tür gekommen, durchs Fenster, durch die Wand hereingekommen. Größer, dunkler, stärker als zuvor, das

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