Das Haus des Buecherdiebs
ärmlichen Verhältnissen geboren und schlug sich in seinen jungen Jahren mit allerlei niedrigen Arbeiten durch, bis ihn ein Buchhändler in der Nachbarschaft als Lehrling aufnahm. Der junge Florentiner verfügte über keine jener besonderen Eigenschaften, die unweigerlich zu großem Erfolg führen. Er war weder gutaussehend noch gesellig, hatte kein handwerkliches oder kaufmännisches Geschick, kein nennenswertes Glück bei den Damen und auch keine |25| ausgeprägte poetische oder künstlerische Phantasie, der er hätte Ausdruck verleihen können. Seine Herkunft war unbedeutend, seine Ausbildung lückenhaft. Dennoch hatte er eine Gabe, die den Buchhändler, der ihn unter seine Fittiche genommen hatte, maßlos begeisterte: Dieser ansonsten eher unscheinbare junge Mann hatte ein phänomenales Gedächtnis. Hatte er ein Buch einmal gelesen, konnte er nicht nur den Inhalt korrekt wiedergeben, sondern ganze Passagen auswendig zitieren, er konnte das entsprechende Kapitel und die Seite, der er das Zitat entnommen hatte, benennen, und es gelang ihm stets, das Buch in den mehr schlecht als recht geordneten Beständen seines Meisters wiederzufinden.
So fand Antonio Magliabechi schließlich seinen Platz in der Welt. Er las von morgens bis abends, las so lange, bis ihm die Augen zufielen, und setzte seine Lektüre mit den ersten Sonnenstrahlen sogleich fort. Sein monströses Gedächtnis speicherte alles sorgfältig und legte die Texte zuverlässig abrufbar in den kleinen grauen Zellen ab. Von Jahr zu Jahr glich sein Gehirn mehr und mehr einer ständig wachsenden Bibliothek, deren Regale täglich mit neuen Bänden gefüllt und durch neues Wissen erweitert wurden. Natürlich stellte man sein Erinnerungsvermögen schon bald auf die Probe: Ein Manuskript, das er vor einiger Zeit gelesen habe, sei verlorengegangen. Magliabechi ahnte nichts von der Täuschung und schrieb den Text sogleich aus dem Gedächtnis nieder. Als man seine Version mit dem Original verglich, konnte man keinen Unterschied feststellen. Jede Zeile, jedes Wort war identisch.
|26| Magliabechi nutzte seine Kenntnisse nie für ein eigenes Werk. Er stellte sich ganz in den Dienst der Autoren, Wissenschaftler und Gelehrten, denen er bereitwillig jede Information und jeden Hinweis lieferte. Bald war sein bibliographisches Wissen weit über Florenz hinaus berühmt, und er wurde mit Anfragen überhäuft. Wer ein bestimmtes Werk zu einen bestimmten Thema suchte, wandte sich an ihn. Hätte al-Bīrūnī ihn nach den verschollenen Büchern der Manichäer gefragt, hätte er höchstwahrscheinlich sofort eine weiterführende Antwort gewusst oder ihm gleich selbst den lang vermissten Band in die Hand gedrückt.
Im Jahr 1673 wurde Antonio Magliabechi von Cosimo III. die Verantwortung für die Palastbibliothek in Florenz übertragen. Der Großherzog war von dem unglaublichen Gedächtnis seines Bibliothekars entzückt. Er bewunderte das schier unerschöpfliche Wissen dieses wunderlichen Bücherwurms. Als er ihn einmal nach einem seltenen Titel fragte und ob dieser in seiner Sammlung zu finden sei, antwortete Magliabechi: »Nein, aber Sie finden das Buch in der Bibliothek des Sultans in Konstantinopel. Es ist der siebte Band im zweiten Regal auf der rechten Seite neben dem Eingang.« Magliabechi war in den Straßen von Florenz längst eine Berühmtheit. Nur zweimal in seinem Leben verließ er seine Heimatstadt, um auf Befehl des Großherzogs in nahe gelegene Ortschaften zu reisen. Er führte jedoch eine umfangreiche Korrespondenz und wurde häufig von Hilfesuchenden und Neugierigen beim Lesen gestört. Wenn ihm die Bibliotheksbesucher zu aufdringlich |27| und lästig wurden, rief er ihnen übellaunig zu: »Achtet darauf, dass ihr meinen Spinnen nichts antut!« Die Spinnen, die sich zwischen den alten Folianten ebenso wohlfühlten wie er, schienen überhaupt die einzigen Lebewesen zu sein, für die er so etwas wie Sympathie empfand.
Ein holländischer Professor, der Magliabechi in dessen Florentiner Domizil aufsuchte, erzählte von den gewaltigen Bücherbergen, zwischen denen der Bibliothekar hauste. Die zwei oder drei Zimmer im Erdgeschoss waren so vollgeräumt, dass man sich kaum vorbeizwängen oder irgendwo hinsetzen konnte. Es gab nur einen schmalen Gang, durch den man von einem Zimmer ins nächste gelangte. Auch unter der Treppe waren Bücher gestapelt, und auf den Stufen drängten sie sich bis hinauf in den zweiten Stock. Hier gab es keine einzige Stelle, die frei von
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