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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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sie meinte.
    Vor ihnen auf den Stufen lag der leblose Körper eines Mannes. Er trug eine Kapuzinerkutte und roch stechend nach Schmutz und Fäkalien. Er lag auf dem Rücken, quer über einer der Stufen. Die Kapuze war ihm vom Kopf gerutscht, baumelte über dem Rand der Stufe und raschelte bei jedem Windstoß über den rauhen Stein. Dabei verursachte sie das leise Scharren, das sie gehört hatten.
    Coralina ging neben dem Mann in die Hocke. Sie musterte sein Gesicht, die aufgerissenen, glasig gewordenen Augen. Seine Haut war dunkel vor Dreck, sein Bart verklebt.
    Jupiter trat auf die andere Seite und leuchtete vom Kopf des Mannes an abwärts. »Was glaubst du, wie lange ist er schon tot?«
    Coralina schluckte den Kloß in ihrem Hals. »Noch nicht lange. Er stinkt, aber nicht nach Verwesung.«
    Jupiter hatte mit dem Lichtkegel den Saum der Kutte erreicht … und das, was darunter hervorschaute. Angewidert verzog er das Gesicht. Seine Innereien ballten sich zusammen wie eine übergroße Faust.
    »Schau dir das an«, brachte er mühsam hervor.
    Coralina folgte seinem Blick … und wurde blaß.
    Unter der Kutte ragten die Beine des Mannes hervor. Er hatte keine Füße mehr … zumindest nichts, das diese Bezeichnung verdient hätte. Wie Astwerk stachen blanke, verkohlte Knochen aus seinen Unterschenkeln hervor. Schwarze Schleifspuren verrieten, daß er sich trotz seiner grausamen Verletzungen hierhergeschleppt hatte, ehe ihn endgültig die Kräfte verließen.
    »Was, zum Teufel … « Jupiter verstummte mitten im Satz, ehe er sich wieder unter Kontrolle bekam. »Was ist mit ihm passiert?«
    Coralina richtete sich auf und starrte besorgt in die Schwärze jenseits des Treppengeländers. »Ich will hier weg. Laß uns verschwinden.«
    Jupiter war immer noch wie hypnotisiert von den entsetzlichen Verbrennungen des Mannes. Die Vorstellung, daß er sich auf den verbrannten Stümpfen die Treppe heraufgequält hatte, war noch verstörender als der Anblick selbst.
    »Das muß einer von den beiden Mönchen sein, die mit Remeo hier heruntergestiegen sind.«
    Coralina wurde immer ungeduldiger. »Bitte, Jupiter, laß uns abhauen!«
    »Sollen wir ihn liegenlassen?«
    »An was dachtest du?« fragte sie bissig. »Eine Feuerbestattung?«
    Jupiter wußte, daß ihr Zynismus nur ein Schutzschild war, so wie die ganze scheinbare Unbefangenheit, mit der sie die Treppen hinabgestiegen waren.
    Er zögerte noch, als ihm plötzlich etwas auffiel. Aufgeregt ging er in die Hocke und packte eine Hand des Mönchs.
    »Was ist?« wollte Coralina wissen.
    »Oh, verdammt …«
    »Jupiter«, sagte sie betont, »was … ist … los?«
    Jupiter hielt den Unterarm des Mönches und schaute langsam zu Coralina auf. »Er lebt noch.«
    »Was?«
    »Er ist noch am Leben! Seine Brust hat sich bewegt -und er hat einen Puls.« Jupiters Zeige-und Mittelfinger lagen auf der Schlagader des Mönchs. Es gab keinen Zweifel: Das Herz des Mannes schlug noch, pumpte in langsamen, unregelmäßigen Schüben Blut durch seinen Körper.
    Coralina kauerte sich neben ihn, nahm die Hand, fühlte es selbst.
    »Was tun wir jetzt?«
    »Wir müssen ihn mitnehmen.«
    Sie nickte widerwillig und sah zu, wie Jupiter seine Arme unter den ausgemergelten Körper schob. Selbst durch die weite Kutte war deutlich zu erkennen, wie dürr er war.
    Jupiter wollte ihn gerade hochheben, als die spröden Lippen des Mönchs aufbrachen und ein rasselndes Stöhnen ertönte.
    »Ist schon gut«, sagte Jupiter sanft. »Wir bringen Sie nach Hause.«
    Coralina sah aus, als könne sie es einfach nicht glauben.
    Die Augen des Mannes standen offen, so als seien seine Lider zu verklebt, um sich aus eigener Kraft zu schließen. Jupiter schob sie mit der Hand zu, hoffend, daß der Mönch dadurch ruhiger werden würde.
    »Von … unten«, drang es kaum hörbar aus der Kehle des Mannes.
    »Tief … unten.«
    Jupiter hob ihn hoch wie ein Kind, erstaunt darüber, wie leicht er war. Kapuziner aßen nur das Nötigste, und die Tage hier unten hatten dafür gesorgt, daß der Mann bis auf die Knochen abgemagert war.
    Während sie mit dem Aufstieg begannen, gab Jupiter sich größte Mühe, nicht mit den verbrannten Fußstümpfen in Berührung zu kommen.
    »Tief unten«, keuchte der Mönch jetzt wieder.
    »Wie heißen Sie?« fragte Coralina.
    »Der Geist … und das Feuer … und der Stier …«
    »Wie heißen Sie?«
    »Pas … Pascale.«
    »Gut, Pascale«, sagte Jupiter, »hören Sie jetzt auf zu sprechen. Sie dürfen sich nicht

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