Das Haus des Daedalus
Altar. In seiner Mitte befand sich ein steinerner Absatz, in den man drei Schädel ohne Unterkiefer eingelassen hatte, die leeren Augen zum Korridor gewandt. Hinter jenem in der Mitte war ein kleines Holzkreuz angebracht. Dorian legte seine Hand auf den mittleren Schädel, und Jupiter fiel auf, daß er eine andere Färbung hatte als die restlichen … so als bestünde er nicht aus demselben Material. Bei genauerem Hinsehen entdeckte Jupiter weitere Unterschiede, und bald hatte er keinen Zweifel mehr, daß der Schädel eine Fälschung war. Jemand hatte ihn aus Stein gehauen.
»Treten Sie zur Seite«, sagte der Abt.
Jupiter und Coralina wichen an die Wände zurück, bemüht, keines der Knochenkunstwerke zu berühren.
Dorian drehte den Schädel, bis seine Augenhöhlen zur Rückwand wiesen. Ein Knirschen ertönte, dann senkte sich die größte Grabplatte in der Mitte des Kapellenbodens um einige Zentimeter und glitt mit einem trockenen Schaben zur Seite. Darunter kam, horizontal in eine Vertiefung im Boden eingelassen, ein stählernes Rad zum Vorschein. Dorian ging in die Hocke und schaute zu Jupiter hoch.
»Wenn Sie mir bitte helfen würden … Es klemmt ein wenig.«
Jupiter wechselte einen Blick mit Coralina, dann kniete er sich zu dem Abt auf den Boden. Gemeinsam drehten sie das Rad nach rechts. Es ließ sich leichter bewegen, als Jupiter erwartet hatte, erforderte aber immer noch genügend Kraft, um den beiden Männern den Schweiß auf die Stirn zu treiben.
»Jupiter!« rief Coralina plötzlich.
Er schaute erst zu ihr, dann, ihrem Arm folgend, zur Stirnseite der Kapelle.
Der Altar hatte sich mitsamt der Wand ein gutes Stück nach hinten geschoben. Rechts und links waren dunkle Spalten erschienen, wie schmale Gänge, die zu beiden Seiten abzweigten.
»Nicht aufhören«, keuchte der Abt.
Jupiter drehte weiterhin mit aller Kraft an dem Rad. Der Altar und die Rückseite des Gewölbes schoben sich immer tiefer nach hinten. Schließlich gab der Abt ihm mit einem Nicken zu verstehen, daß es genug sei.
Jupiter stand auf. Er und Coralina starrten Dorian abwartend an.
»Der Spalt auf der linken Seite endet nach zwei Metern, aber der rechte führt zu einer Treppe und nach etwa zehn Metern in eine Kammer. Dort werden Sie finden, was Sie suchen.«
»Sie kommen nicht mit bis zum Tor?« fragte Coralina.
»Nein«, entgegnete der Abt mit fester Stimme. »Ich bin sicher, Sie können Ihre Fehler auch ohne meine Hilfe begehen.«
Jupiter nickte ihm zu. »Danke, daß Sie uns bis hierher geholfen haben.«
Dorian schaute ihn nur traurig an und gab keine Antwort.
Jupiter ging mit der Lampe voran, Coralina folgte dicht hinter ihm. Sie schlüpften durch den Spalt und ließen den Abt in der Kapelle zurück. Als Jupiter kurz über die Schulter schaute, erschien ihm das Gesicht des Kapuziners noch grauer und eingefallener. Dann verdeckte Coralinas Silhouette die Sicht durch den Spalt, und Jupiter schaute wieder nach vorne.
Genau wie Dorian gesagt hatte, stießen sie bald auf Stufen, die steil nach unten führten. Jupiter ließ den Lichtkegel über die Kanten huschen. Im ersten Augenblick kam ihm irgend etwas ungewöhnlich vor, ohne daß er es hätte benennen können. Dann aber begriff er, was ihn stutzig machte: Stufen in alten Gemäuern waren für gewöhnlich ausgetreten, die Ecken abgerundet, glattpoliert; diese aber waren wie neu. Kaum jemand hatte sie in all den Jahrhunderten benutzt. Vermutlich waren nach Piranesi nur noch Santino und seine Brüder hier hinabgestiegen.
Und nun also Coralina und er.
Die Kammer am Ende der Stufen war niedrig und viel kleiner, als er erwartet hatte. Sie war leer, ein hohler Würfel umgeben von Steinquadern, jeder einzelne so groß, daß je vier eine Wand bildeten.
Gegenüber der Treppe lag das Tor.
Sein Anblick war denkbar unspektakulär: eine quadratische Steinplatte, in die ein auf der Spitze stehendes Dreieck geritzt war, mit zwei kurzen Auswüchsen an der oberen Seite … der stilisierte Stierkopf, von dem Dorian gesprochen hatte.
In der Mitte des Dreiecks, zwischen den eingekerbten Augen des Stiers, befand sich ein schmaler Schlitz. Jupiter wußte nicht, wann der erste Schlüssel erfunden worden war … im frühen Mittelalter, schätzte er -, aber er nahm an, daß der Anblick dieses Mechanismus für den einen oder anderen Historiker eine Sensation bedeutet hätte. Ein Schlüsselloch in einer Tür, die vermutlich um die dreitausend Jahre alt war!
Coralina zog ehrfürchtig den
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