Das Haus des Daedalus
Staub wölkte empor. »Das Ganze ist Wahnsinn … ihr wißt das beide ganz genau.«
»Deshalb wollten wir dich dabeihaben«, sagte die Shuvani und zeigte ihre Goldzähne. »Als unsere Stimme der Vernunft.«
»Immerhin … deinen Humor hast du im hohen Alter nicht verloren.«
Die Shuvani schnaubte, dann ließ sie sich in den Stuhl mit den Löwenpranken fallen. Das Holz ächzte unter ihrem Gewicht. »Hilfst du uns?«
Jupiter zögerte und blickte hinüber zu Coralina.
Sie strahlte ihn an. »Also?« Er kannte diese Frage, und er kannte dieses Lächeln. Damals hatte er nein gesagt.
Er strich mit dem Daumen über den Lederbeutel in seiner Hand. Deutlich spürte er darunter die Vertiefungen der großen Hieroglyphen. Die kleinere Schriftreihe aber, die jemand nachträglich in das antike Relikt geritzt hatte, ließ sich nicht ertasten. Zum ersten Mal hatte Jupiter das Gefühl, daß sie das wahre Geheimnis darstellte, die Lösung eines Rätsels, das noch unsichtbar unter der Oberfläche der Dinge lag.
»Bekomme ich noch einen Wein?« fragte er leise.
»Piranesi«, begann Coralina, als sie wieder im Dachgarten saßen und nachdenklich ihre Weingläser zwischen den Fingern drehten, »wurde im Oktober 1720 geboren. Er stammte aus einer Familie angesehener Architekten und Handwerker und wurde im Alter von vierzehn Jahren nach Venedig geschickt, um von seinem Onkel in der Baukunst unterwiesen zu werden. Allerdings erwies sich der Junge als ziemlich widerspenstig und aufmüpfig … ich schätze, heutzutage würden wir das Pubertät nennen -, und so wurde er schon bald von seinem ehrenwerten Onkel an die Luft gesetzt.«
»Piranesi mit Pickeln«, bemerkte Jupiter. »Interessante Vorstellung.«
»Ein anderer Architekt nahm sich seiner an und lehrte ihn das Malen von Bühnenbildern, mit besonderem Schwerpunkt auf der Perspektive. Damals gab es in Venedig unzählige Theater und Opernhäuser, so daß Piranesi sich gute Chancen ausrechnete, eine lukrative Anstellung zu finden. Leider unterschätzte er die Schwäche der damaligen venezianischen Wirtschaft, und bald schon mußte er feststellen, daß er trotz all seines Talents keine Aussicht auf ein ausreichendes Einkommen hatte. Piranesi nahm Abschied von der Stadt und schloß sich dem Gefolge eines päpstlichen Gesandten an, mit dem er 1740 nach Rom reiste. Dort beendete er in der Werkstatt eines Kupferstechers seine Ausbildung.«
Jupiter beobachtete gedankenverloren, wie sich das Licht der Abendsonne in seinem Weißwein brach. »Das muß etwa die Zeit gewesen sein, als er mit der Arbeit an seinen Veduten begann, oder?«
»Die Öffentlichkeit entwickelte damals ein enormes Interesse … verbunden mit einer erheblichen Kaufbereitschaft … an detaillierten Stadtpanoramen und Landschaftsansichten«, sagte Coralina, »den sogenannten Veduten. Piranesi erkannte, daß er damit seinen Lebensunterhalt sichern konnte, und stürzte sich mit Begeisterung auf seine neue Aufgabe. Seine erste Sammlung erschien 1743 und erfreute sich eines ziemlichen Achtungserfolges. Er begann, ausgedehnte Reisen zu unternehmen, unter anderem nach Neapel, wo er seine Liebe für vorchristliche Monumentalbauten entdeckte. Zurück in Rom entschied er deshalb, seine künftige Arbeit den Ruinen zu widmen. Über Jahre hinweg erschienen immer neue Stiche mit antiken Motiven. Außerdem übernahm er einen Posten als Geschäftsführer einer gutgehenden Grafikhandlung, der ihm ein geregeltes Einkommen sicherte. Derweil machten ihn seine Werke weit über die Stadt hinaus bekannt. Die Leute schätzten den Detailreichtum seiner Radierungen, der die alten Ruinen noch spektakulärer erscheinen ließ. Zu jener Zeit, 1749, erschien auch die erste Fassung der Carceri, eine Mappe mit vierzehn Stichen seiner erfundenen Kerkerlandschaften.«
»Sechzehn«, verbesserte die Shuvani.
Coralina schenkte ihrer Großmutter einen unwirschen Blick. »Nein, vierzehn. Erst Jahre später hat Piranesi den Zyklus komplett überarbeitet und zwei weitere Motive hinzugefügt. Das war 1761. Aber soweit bin ich noch nicht. Nach seinen ersten großen Erfolgen beschloß Piranesi nämlich, sich einer ganz anderen Aufgabe zuzuwenden. Er unterbrach seine Arbeit an den Radierungen und begann mit archäologischen Forschungen in den Katakomben an der Via Appia. Tag für Tag stieg er hinab in die unterirdischen Gänge und Gewölbe und machte sich daran, die Grabmäler der frühen Christen zu dokumentieren. Er tat das mit solcher Begeisterung, daß er
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