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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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seinen bisherigen Kundenkreis vernachlässigte und nur noch vom Verkauf der alten Vedutendrucke lebte. Die Leute verstanden ihn nicht mehr, und viele seiner Anhänger wandten sich von ihm ab. So setzte Piranesi es sich zum Beispiel in den Kopf, die zweihundert Namen von den Platten im Familiengrab des Augustus zu kopieren … und zwar so exakt und detailliert, daß jede kleinste Beschädigung der Inschriften, jede Unebenheit und jeder Riß zu sehen sein würden. Obwohl er an Arbeiten wie dieser fast verzweifelte, führte er sie über einen langen Zeitraum hinweg fort. Die Leute lachten über ihn, erst hinter seinem Rücken, dann offen in sein Gesicht. Aber Piranesi war von der Unterwelt Roms so fasziniert, daß er seine Arbeit in den Katakomben erst beendete, nachdem er alle seine Ziele erreicht hatte.
    Als er wieder in die Öffentlichkeit zurückkehrte, gab es freilich ein Problem: Kaum jemand nahm ihn mehr ernst, und sein einstiger Lehrer Giuseppe Vasi war inzwischen bei weitem populärer als er. Piranesi aber gab nicht klein bei, sondern nahm die Herausforderung voller Elan an. Er stürzte sich in die Arbeit, und es dauerte nicht lange, da hatte er seine alte Position zurückerobert. Die Verkaufszahlen seiner Werke stiegen wieder, und schließlich übertraf er sogar seine früheren Erfolge. Als 1756 schließlich die Antichita Romane erschienen, die Ansichten Roms, war Piranesi endgültig ein Star. Sein Name war in ganz Europa bekannt, der Adel riß sich um seine Stiche.
    Man muß sich das wirklich nach modernen Maßstäben vorstellen: Jeder in Rom kannte Piranesi, und hätte es damals schon Klatschblätter und die Boulevardpresse gegeben, so hätten sie wohl Woche für Woche ihre Seiten mit Piranesis neuesten Eskapaden gefüllt. Er lieferte sich lange Auseinandersetzungen mit anderen Künstlern, vor allem aber mit den damaligen Kunsthistorikern.
    Piranesi war der Ansicht, die römische Architektur basiere nicht … wie allgemein angenommen … auf der griechischen, sondern auf der etruskischen Baukunst. Diese Diskussion schlug Wellen weit über Italien hinaus. Die Gelehrten, für die das Griechische das Maß aller Dinge war, reagierten teils beleidigt, teils feindselig. Die Etrusker als Urväter der römischen Architektur waren für die damalige Geisteswelt völlig undenkbar … sie galten als Barbaren, über die man kaum etwas wußte, während die griechische Antike in den Augen der meisten das Zeitalter der Kunst schlechthin gewesen war. Piranesi führte einen umfangreichen Schriftwechsel mit zahllosen Historikern in ganz Europa, der meist in Beschimpfungen und Schmähungen gipfelte. Vieles davon wurde veröffentlicht und sorgte so für weiteren Zündstoff. Im Grunde ist Piranesi damals bereits genauso vorgegangen wie die heutige Prominenz: Er produzierte immer wieder Skandale und hielt so seinen Namen in aller Munde, was ihm wiederum gewinnbringende Verkäufe sicherte, trotz der exorbitanten Preise, die er für seine Werke verlangte. Hinzu kam, daß er seine Stiche in Auflagen von mehreren hundert Exemplaren drucken konnte, so daß er, anders als etwa die klassischen Maler, durch die Reproduzierbarkeit seiner Kunst weitere Reichtümer scheffelte. Als er im November 1778 schließlich mit achtundfünfzig Jahren starb, war er ein wohlhabender Mann, dessen Familie es verstand, auch postum an seinen Werken zu verdienen.«
    »Klingt, als sei er ein ziemlich heller Kopf gewesen«, brummte die Shuvani. Jupiter bemerkte mit einem Anflug von Mißbilligung den Neid in ihrer Stimme.
    »Piranesi war für seine Zeit hochgebildet, vermutlich auch hochintelligent«, bestätigte Coralina.
    »Stellt sich lediglich die Frage«, sagte Jupiter langsam, mit einem beinahe genüßlichen Blick in die Richtung der Shuvani, »weshalb ein Finanzgenie wie Piranesi einen ganzen Satz Kupferplatten einmauert, wenn er sie doch auch für viel Geld hätte verkaufen können.«
    Coralina nickte schweigend, während die Shuvani ein enormes Taschentuch hervorzog und sich lautstark schneuzte.
    Jupiters Blick wanderte zur Tür des Dachgartens, und in Gedanken tauchte er tiefer hinab ins Innere des Hauses. Er dachte an die unbekannte Kupferplatte unten im Laden und an die verschlungenen Strukturen ihrer Kerkerarchitektur.
    Er dachte an den Schlüssel und fragte sich, welches Tor sich wohl damit öffnen ließe.
    Später führte Coralina Jupiter in ihre Wohnung im Kellergeschoß des Hauses. Rohre und Kabelstränge verliefen unter der niedrigen Decke;

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