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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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zu haben, nicht einmal etwas, das auch nur Ähnlichkeit mit einem Schlüssel besaß.
    Die Shuvani kehrte mit vier großformatigen Büchern zurück und reichte sie Jupiter. Er hätte einen modernen Bildband mit Fotos bevorzugt, doch er wußte, daß die Shuvani keine aktuellen Bücher führte. Hier handelte es sich um die Bände eins bis vier von Arthur Evans’ The Palace of Minos, einem zwischen 1921 und 1935 erschienenen Standardwerk über die minoische Ära und ihr bekanntestes Bauwerk. Jupiter blätterte vergeblich in den ersten beiden Bänden, bis er schließlich im dritten fand, was er suchte. Er legte das aufgeschlagene Buch vor sich auf den Boden.
    Die rechte Hälfte der Doppelseite zierten zwei kreisrunde Federzeichnungen. Jupiter plazierte die Tonscherbe auf der linken Seite, damit er sie mit den Darstellungen auf der rechten vergleichen konnte. Die Ähnlichkeit fiel sofort ins Auge.
    »Phaistos Disc«, las Coralina die englische Bildunterschrift. Ihre Miene hellte sich auf. »Der Diskos von Phaistos! Natürlich!«
    Sie und Jupiter grinsten sich in stummem Einverständnis an, während die Shuvani mißmutig auf und ab ging. »Könntet ihr mir bitte erklären, von was ihr da faselt?« verlangte sie unwirsch.
    Die Federzeichnungen zeigten die beiden Seiten einer runden Scheibe, in deren Oberfläche ein spiralförmiges Labyrinth eingeritzt war. Zwischen den Linien waren Hieroglyphen eingedruckt, ganz ähnlich jenen auf ihrem Fundstück. Doch so oft Jupiter die Scherbe auch auf den Buchseiten umherschob, sie drehte und wendete, war doch bald schon offensichtlich, daß sie nur auf den ersten Blick mit der Zeichnung identisch war.
    Enttäuscht ließ er die Scherbe auf dem geöffneten Buch liegen.
    »Der Diskos wurde Anfang des Jahrhunderts von italienischen Archäologen auf Kreta entdeckt, in der Gegend von Phaistos«, erklärte er der Shuvani. »Die Stadt war neben Knossos das bedeutendste Herrschaftszentrum der Insel, die Kornkammer des minoischen Reiches. Der Diskos ist das älteste bekannte Zeugnis eines gedruckten Textes. Niemand weiß genau, wie alt die Scheibe ist, aber die Schätzungen gehen von rund dreitausendfünfhundert Jahren aus. Das bedeutet, hier haben Menschen den Buchstabendruck erfunden, mehr als drei Jahrtausende bevor Gutenberg seine erste Druckpresse baute.«
    Die Shuvani deutete auf die Federzeichnungen. »Was bedeuten die Hieroglyphen?«
    »Auch das weiß keiner«, kam Coralina Jupiter zu Hilfe. »Es hat zahllose Versuche gegeben, die Zeichen zu decodieren, weit über fünfzig, soweit ich weiß. Die einen sahen darin einen Kalender, die nächsten einen Reisebericht, andere wieder die Schilderung einer Liebesnacht mit einer minoischen Prinzessin.« Sie schmunzelte.
    »Sogar Erich von Däniken hat die Scheibe für seine Theorien vereinnahmt. Na ja, das Übliche … die Götter aus dem All und so.«
    »Man weiß so gut wie nichts über die wahre Bedeutung des Diskos«, sagte Jupiter. »Anhand der Gangrichtung der kleinen Strichfiguren läßt sich erkennen, daß die Zeichen von außen nach innen gelesen werden müssen, vom Eingang des Labyrinths zu seinem Zentrum. Aber damit sind wir auch schon am Ende der bekannten Fakten.«
    Die Shuvani beugte sich über das Buch, warf einen mürrischen Blick auf die beiden Zeichnungen und richtete sich wieder auf. »Wie groß ist das Ding?«
    Jupiter suchte im Text auf der linken Seite nach einer entsprechenden Erwähnung. »Etwa sechzehn Zentimeter im Durchmesser. Du hast nicht zufällig ein Buch, das … hm, ein wenig zeitgenössischer ist? Dann könnten wir vielleicht rausfinden, wo der Diskos heute aufbewahrt wird.«
    Die Shuvani schenkte ihm einen finsteren Blick. »Ich darf dir mit Stolz versichern, daß es in meinem Geschäft kein Buch mit auch nur einer einzigen Farbfotografie gibt, junger Freund.«
    »Junger Freund?« Coralina lachte. »Vorsicht, Jupiter, ich kenne diesen Tonfall. Gleich wird sie dich bitten, den Müll nach draußen zu schaffen.«
    Die Shuvani gab ihrer Enkelin einen sanften Klaps auf den Hinterkopf. »Und du, junge Dame, hast offenbar keine ausreichende Erziehung genossen, sonst würdest du deinem armen alten Vormund nicht in den Rücken fallen.«
    Coralina schaute mit einem frechen Blitzen in den Augen von Jupiter zur Shuvani. »Ich hab ihn hergebracht, oder? Und noch hat er nicht gesagt, daß er schnurstracks mit uns zur Polizei gehen will.«
    Jupiter steckte die Scherbe wieder in den Lederbeutel und schlug das vergilbte Buch zu.

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