Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Coralina hatte sie alle dunkelrot gestrichen, wodurch sie sich auffällig vom Weiß der Mauern abhoben. An den Wänden hingen einige Drucke, säuberlich gerahmt, doch den meisten Platz nahmen aufwendige Zeichnungen auf Millimeterpapier ein, die Coralina für ihre Restaurationsarbeiten angefertigt hatte. Sie waren zu groß für Pinnwände, deshalb hatte sie sie mit Klebestreifen direkt auf dem Verputz befestigt. Jupiter bestaunte schweigend ihr Geschick im Umgang mit dem Isographen. Nun verstand er, weshalb die Bauleiter von Santa Maria del Priorato einer jungen Frau wie ihr soviel Verantwortung übertragen hatten.
    Auf Coralinas Schreibtisch entdeckte er einen Stapel ihrer Visitenkarten. Er steckte einige davon ein, für den Fall, daß er während seines weiteren Aufenthalts in Rom jemandem eine Adresse hinterlassen mußte.
    Neben dem Schreibtisch wies ein winziges Kellerfenster hinaus auf die Gasse vor dem Haus. Mehrere Briefe und Werbesendungen lagen darunter auf dem Boden verstreut. Coralina erklärte, daß das Fenster Tag und Nacht gekippt sei und vom Postboten als Briefkasten benutzt wurde; sie hatte ihn darum gebeten, damit ihre Post nicht im Durcheinander der Rechnungen und Kataloge unterging, die jeden Tag im Laden der Shuvani landeten.
    Sie brachte Jupiter bis zur Tür des Gästezimmers und beobachtete mit einem Lächeln, wie er eintrat und sich langsam umschaute. Sie glaubte, daß er es hinter seinem Rücken nicht bemerkte, doch da täuschte sie sich. Es verunsicherte Jupiter ein wenig, daß die Erinnerung an damals sie so offensichtlich amüsierte. Den meisten anderen Frauen wäre der Gedanke daran peinlich gewesen. Coralina aber lächelte, und damit gab sie ihm fast so viele Rätsel auf wie der alte Kupferstich im Laden der Shuvani.
    »Gute Nacht«, sagte sie leise und zog von außen die Tür zu. Jupiter hörte, wie sich ihre leichten Schritte auf dem Kachelboden des Kellers entfernten, ehe sie die dicken Teppiche erreichte, mit denen sie ihr Wohn-und Arbeitszimmer ausgelegt hatte. Einen Moment lang war ihm die plötzliche Stille unangenehm.
    Im Gegensatz zum Rest des Kellers hatte sich in diesem Zimmer kaum etwas verändert. Unter dem einzigen Fenster, das hoch unter der Decke auf einen Innenhof hinausging, befand sich ein Bett, breit genug für zwei. Außerdem gab es ein Waschbecken und eine Badewanne mit gußeisernen Raubtierfüßen. Die Wände waren weiß verputzt wie die anderen Räume des Untergeschosses. Mehrere Bilder hingen daran, die Jupiter bereits von seinem ersten Besuch vor zehn Jahren kannte.
    Er legte seinen Koffer auf einen kleinen Tisch in der Ecke und klappte den Deckel hoch. Erstmals kam ihm der Gedanke, daß alle seine Kleidungsstücke gleich aussahen, so als hätte Miwas Verschwinden nicht nur sein Leben, sondern sogar seine Garderobe aller Variationen beraubt. Frustriert zerrte er seinen Kulturbeutel unter der Kleidung hervor und ließ den Kofferdeckel wieder zufallen. Er wußte nicht, warum ihn ausgerechnet jetzt einer jener unregelmäßigen Schübe von Selbstmitleid überkam, wo es doch eigentlich genug anderes gab, über das er sich hätte Gedanken machen müssen. Etwa die Tatsache, daß er jetzt ein Krimineller war.
    Mit dem Bild des siebzehnten Kupferstichs vor Augen warf er sich … aufs Bett. Er war erschöpft … das war er immer nach Flügen, ganz gleich wie kurz oder lang sie waren -, aber er spürte auch, daß er so schnell nicht würde einschlafen können. Zu viele Dinge geisterten durch seinen Kopf. Das Wiedersehen mit Coralina und der Shuvani, die Geheimkammer in der Kirche, die unbekannte Radierung, die Tonscherbe mit ihren archaischen Symbolen … viel zuviel für einen Tag, fand er.
    Immer wieder blitzten hinter seinen Lidern Eindrücke aus dem Leben Piranesis auf, so als wäre er selbst dabeigewesen und erinnere sich bruchstückhaft an die Ereignisse von damals: Piranesis Rückzug in die Katakomben unter der Via Appia, die lange vergessenen Namen an den Wänden des Augustus-Grabes … die Flucht in das Labyrinth einer Vergangenheit, die nicht seine eigene war. Nicht die Piranesis, und auch nicht jene Jupiters.
    Schließlich döste er ein und fiel in einen Halbschlaf, in dem er Laute zu hören glaubte, die aus unbestimmter Tiefe an seine Ohren drangen. Das Knirschen stählerner Kettenzüge hallte durch eine dunkle Traumwelt aus mächtigen Steinblöcken und titanischen Gewölbedecken. Schreie eines vergessenen Gefangenen erfüllten die Leere dieser Unterwelt, das

Weitere Kostenlose Bücher