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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Blick keinem bestimmten Kulturkreis zuordnen konnte. Auch der eingeritzte zweite Text irritierte ihn.
    »Das sieht nicht aus, als stammte es aus der Zeit Piranesis«, stellte er fest. »Es ist älter, würde ich sagen. Viel älter. Zumindest die großen glasierten Symbole.«
    Coralina nickte schweigend, während die Shuvani vernehmlich ein-und ausatmete.
    Jupiter nahm die Scherbe zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt sie ins Licht und drehte sie nahe vor seinen Augen. Die Hieroglypheninschrift bedeckte beide Seiten, während die kleineren Zeichen nur auf einer Seite eingekratzt waren.
    »An irgend etwas erinnert mich dieses Ding«, murmelte er. »Ich hab so was schon mal irgendwo gesehen.«
    »In natura?«
    »Nein, in einem Buch, glaube ich.« Er zerbrach sich den Kopf, kam aber nicht darauf, wieso ihm die Scherbe und ihre Muster bekannt vorkamen. So betrachtete er wieder die siebzehnte Kupferplatte.
    »Habt ihr eine Idee, was für ein Zusammenhang zwischen beidem besteht?« wandte er sich an Coralina.
    »Im Augenblick steht lediglich fest, daß sie beide im selben Versteck untergebracht waren.« Sie ließ sich von ihm die Scherbe aushändigen und betrachtete sie konzentriert. »Entweder vorchristlich«, sagte sie schließlich, »oder ein Dummerjungenscherz. Zumindest, was die großen Symbole angeht.«
    »Piranesi hat dieses Ding bestimmt nicht zum Spaß zusammen mit den Platten versteckt«, sagte Jupiter. »Vorausgesetzt, es war überhaupt er selbst, der all das in der Kirche deponiert hat.«
    »Davon können wir ausgehen. Die Laboruntersuchungen des Gesteins und des Mörtels waren eindeutig. Und wer sonst hätte Interesse daran haben können, Piranesis Druckplatten in der von ihm umgebauten Kirche zu verstecken?«
    Coralina hatte wahrscheinlich recht. Jupiter akzeptierte ihre Feststellung noch nicht als Tatsache, fand aber, daß sie eine gute Basis für weitere Ermittlungen war. Es war immer von Vorteil, den Dingen eine gesunde Erdung zu geben, auch wenn sie sich im späteren Verlauf der Nachforschungen als falsch oder vorschnell erweisen mochte.
    »Jetzt weiß ich’s!«
    Coralina sah ihn verständnislos an. »Was meinst du?«
    »Die Scherbe …« Er wandte sich an die Shuvani. »Hast du unten ein Buch über die minoische Kultur Kretas?«
    »Schätzchen, hier gibt es nichts, das es nicht gibt.« Damit verschwand sie auf der Treppe und mühte sich die engen Stufen hinunter ins Erdgeschoß.
    Sekunden später ertönte von unten ein Poltern, dann ein Fluch.
    Coralina sprang besorgt auf. »Großmutter?«
    Jupiter eilte mit ihr zur Treppe. Als sie hinunterschauten, saß die Shuvani breitbeinig inmitten eines umgefallenen Bücherstapels am Boden.
    »Gott, Großmutter, ist dir was passiert?« Coralina wollte die Treppe hinunterspringen, aber die Shuvani hielt sie mit einer Handbewegung zurück. »Schon gut, schon gut … Eine alte Frau verträgt so was.« Sie deutete auf die Bücher, in die sie hineingestolpert war. »Das ist die Lieferung für Kardinal Merenda. Die sollte schon längst im Vatikan sein.«
    »Der Vatikan kauft bei euch Bücher?« fragte Jupiter verwundert.
    »Gelegentlich«, gab Coralina zurück. »Kardinal Merenda ist ein ziemlich guter Kunde. Seit die Shuvani ihm einen Band besorgt hat, der vor über zweihundert Jahren aus der vatikanischen Bibliothek entwendet wurde, gibt er uns hin und wieder Suchaufträge. Die Lieferung da unten«, sie deutete die Treppe hinab, wo die Shuvani noch immer inmitten der Bücher saß wie ein Kind in einem Haufen Herbstlaub, »war eigentlich gestern fällig.« Ihrer Großmutter rief sie zu: »Ich kümmere mich morgen darum.«
    »Das wäre gut.« Die Shuvani stemmte sich hoch und stand einen Augenblick später wieder auf den Füßen. Vor sich hin murmelnd wackelte sie davon und verschwand aus dem Blickfeld der beiden.
    »Sollen wir runterkommen?« rief Jupiter.
    »Untersteht euch!« antwortete die Shuvani gedämpft. »Ich bin vielleicht alt, aber nicht invalide.«
    Coralina und Jupiter wechselten einen amüsierten Blick, ehe sie rasch zur Kupferplatte und der Tonscherbe zurückkehrten.
    Jupiter strich mit dem Finger über den sonderbaren Schlüsselumriß, der mit seiner exakten Linienführung so gar nicht in das grob schraffierte Umfeld des Kerkers paßte. Der Schlüssel war langstielig und hatte einen kantigen Bart; das dazugehörige Schloß mußte sehr alt sein. Jupiter konnte sich nicht erinnern, in einem der übrigen sechzehn Motive eine vergleichbare Abbildung gesehen

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