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Das Haus des Daedalus

Titel: Das Haus des Daedalus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Lallen eines Wahnsinnigen im tiefsten aller Kerker.
    Als Jupiter erwachte, hörte er tatsächlich Geräusche, direkt vor seiner Tür. Leichtfüßige Schritte auf dem Kachelboden. Einen Moment lang glaubte er an ein Deja vu. Vor seinem geistigen Auge sah er Coralina, wie sie schweigend das Zimmer betrat und unter seine Bettdecke schlüpfte.
    Doch die Schritte gingen an der Tür vorüber, und wenig später hörte er sie auf der Treppe nach oben. Jupiter schaute auf seine Armbanduhr. Kurz nach halb drei. Möglich, daß Coralina einfach nur Durst hatte. Aber gab es hier unten nicht eine eigene Küchenecke? Vielleicht war ihr Kühlschrank leer.
    Jupiter rappelte sich auf und trat nach einem Augenblick schläfriger Desorientierung ans Waschbecken. Er war vollbekleidet auf dem Bett eingeschlafen. Seine Zähne fühlten sich stumpf an, seine Zunge belegt vom Wein. Er kramte Zahnbürste und Zahncreme aus dem Kulturbeutel und scheuerte so lange in seinem Mund herum, bis er sich nicht mehr vor sich selbst ekelte. Er wusch sich Gesicht und Hals mit eiskaltem Wasser, woraufhin er sich zwar besser fühlte, allerdings auch wieder hellwach war.
    Nach kurzem Zögern beschloß er, Coralina zu folgen. Vielleicht konnte er ja mit ihr gemeinsam die Vorräte der Shuvani plündern. Alles war besser, als sich wach auf dem Bett herumzuwälzen und frustriert darauf zu warten, endlich wieder einzuschlafen.
    Draußen im Keller war es dunkel; Coralina hatte kein Licht eingeschaltet. Jupiter stieg die Treppe hinauf und durchquerte die beiden düsteren Ladenetagen. Durch eines der vorderen Fenster schien das Licht einer Straßenlaterne herein und schuf tiefschwarze Schatten zwischen den Regalreihen. Schon als Kind hatte Jupiter Bücherregale im Dunkeln als unheimlich empfunden. All die Geschichten, die im Finsteren auf ihre Wiederentdeckung warteten, stumm und schlummernd, hatten ihm einen Schauder über den Rücken gejagt, wenn es ihn am Abend gelegentlich in die Bibliothek seines Großvaters verschlagen hatte, an jenen ruhigen Ferienwochenenden, die bei den meisten Menschen mit dem Erwachsenwerden aus dem Gedächtnis verschwinden.
    Er suchte in der Küche nach Coralina. Sie war nicht dort. Im Wohnzimmer entdeckte er, daß die Tür zum Dachgarten offenstand. Von draußen drang gedämpft die nächtliche Geräuschkulisse Roms herein. Jenseits der meterhohen Topfpflanzen wurde eine Hauswand in weißblaues Lichtgewitter getaucht, als eine Ambulanz mit ausgeschalteter Sirene vorüberraste.
    »Coralina?« Er flüsterte mehr, als daß er sie rief. Er wollte die Shuvani nicht wecken.
    Er horchte auf eine Antwort, doch alles, was er hörte, waren zwei kämpfende Kater, irgendwo in der Schneise zwischen den Häusern.
    »Coralina? Bist du hier draußen?«
    Aufmerksam schaute er sich auf der kleinen Terrasse um. Ganz kurz kam ihm der Gedanke, daß sich Coralina vielleicht hinter den Pflanzen versteckte. Ihm fiel jedoch kein vernünftiger Grund ein, weshalb sie das tun sollte; außerdem fürchtete er, sich lächerlich zu machen, wenn er zwischen den Zweigen und Palmwedeln nach ihr suchte. Wahrscheinlich wäre die Shuvani ausgerechnet dann in der Tür erschienen, wenn er gerade kopfüber in irgendeinem Kübel steckte.
    Er flüsterte Coralinas Namen ein drittes Mal, ehe er die schmale Treppe entdeckte, die zwischen zwei Weidenbäumen höher aufs Dach führte. Er hatte noch nie der Aussicht über Roms Dächerlandschaft widerstehen können, zumal er sich nicht erinnern konnte, die Stadt jemals bei Nacht von oben betrachtet zu haben.
    Als er eine Etage höher auf das Dach des Hauses stieg, knirschten die Gitterstufen unter seinen Füßen wie die Ketten in seinem Traum. Die verschachtelten Ziegelflächen bildeten hier oben einen ebenen Aussichtspunkt. Auf dem Nebenhaus erkannte Jupiter den Bretterverschlag eines Taubenzüchters, dahinter einen Wald rostiger Antennen.
    Coralina stand reglos an einem Gitter, das ihr gerade bis zu den Knien reichte, und blickte über den Abgrund der Gasse hinweg. Sie trug nur ein enges weißes Sleepshirt und hatte Jupiter den Rücken zugewandt. Ihr schwarzes Haar tanzte auf einer eisigen Brise. Jupiter bemerkte die Gänsehaut auf ihren nackten Schenkeln, silbrig schimmernd im Licht der Straßenlaterne vor dem Haus. Trotzdem stand sie ganz ruhig da, so als könnte die Kühle der Nacht ihr nichts anhaben.
    »Coralina?«
    Sie regte sich nicht.
    Er trat von hinten an sie heran und berührte sachte ihren Oberarm. »Alles in Ordnung?«
    Sie

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