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Das Haus des Windes

Das Haus des Windes

Titel: Das Haus des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Erdrich
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Sandsack, den Mom als Gewicht zusammengenäht hatte. Sie weckten mich vor den anderen auf und brachten mich in die Küche. Der Holzofen war an, und ich trank ein Glas dünne, bläuliche Milch. Dann setzte sich Mom auf einen der Küchenstühle und nahm mich auf den Schoß. Sie massierte meinen Kopf, wölbte dann ihre starken Hände und zog meinen Schädel in Form.
    Du wirst manchmal Sachen sehen, sagte Mom einmal zu mir. Die weiche Stelle auf deinem Kopf war länger offen als bei anderen Babys. Da kommen die Geister rein.
    Dad saß uns gegenüber auf einem anderen Stuhl und wartete darauf, mich von Kopf bis Fuß zu strecken.
    Streck die Füße aus, Tuffy, sagte er. Das war mein Spitzname. Ich legte meine Füße in Dads Hände, und er zog in die eine Richtung, während Mom die Hände fest auf meine Ohren presste und in die andere Richtung zog.
    Mein Bruder Cedric hatte mich Tuffy genannt, weil er wusste, dass ich in der Schule sowieso einen Spitznamen abbekommen würde. Er wollte nicht, dass er sich auf meinen Arm oder meinenKopf bezog. Aber mein Kopf – der bei meiner Geburt so verformt gewesen war, dass der Arzt mich für schwachsinnig gehalten hatte – änderte sich allmählich durch Moms Behandlungen. Als ich schließlich alt genug war, in den Spiegel zu sehen, dachte ich, ich sei wunderschön.
    Weder Mom noch Dad klärten mich je über meinen Irrtum auf. Es war Sheryl, die mich darauf aufmerksam machte, indem sie sagte: Du bist so hässlich, dass du schon wieder niedlich bist.
    Bei der nächsten Gelegenheit sah ich noch einmal in den Spiegel und erkannte, dass Sheryl recht hatte.
    Das Haus, in dem wir lebten, riecht bis heute leicht nach modrigem Holz, Zwiebeln, gebratenem Blesshuhn und dem salzigen Aroma ungewaschener Kinder. Mom mühte sich immer ab, uns sauber zu halten, und Dad machte uns dreckig. Er nahm uns mit in den Wald und zeigte uns, wie man einen Kaninchenpfad findet und eine Schlinge legt. Wir zerrten mit Bindfadenschlaufen Erdhörnchen aus ihren Löchern und pflückten kübelweise Beeren. Wir ritten ein bissiges, bockiges kleines Pony, angelten Barsche in einem nahe gelegenen See und gruben jedes Jahr für unser Schulgeld Kartoffeln aus. Mom hatte ihren Job nicht halten können. Dad verkaufte Feuerholz, Mais und Kürbisse. Aber hungern mussten wir nie, und es ging liebevoll zu bei uns. Ich wusste, wie viel ich ihnen bedeutete, weil es für Mom und Dad nicht leicht war, mich aus dem Sozialhilfesystem herauszuhalten, selbst nachdem ich mit meinem ununterbrochenen Schrei meinen Teil dazu beigetragen hatte. Damit will ich nicht sagen, dass sie perfekt gewesen wären. Dad trank manchmal, bis er am Boden lieben blieb. Mom hatte ein cholerisches Temperament. Sie schlug uns nie, aber sie schrie und wütete. Und sie konnte, was schlimmer war, ganz gemeine Dinge sagen. Einmal wirbelte Sheryl im Haus herum. Es gab da ein Regal, das geschützt in einer Ecke stand. Darauf eine Kristallglasvase, die Mom sehr am Herzen lag. Wenn wir ihr Wildblumensträuße mitbrachten, stellte sie sie immer in diese Vase. Ich hatte sie einmaldabei beobachtet, wie sie die Vase mit Seife wusch und mit einem alten Kissenbezug trockenpolierte. Dann riss Sheryl im Vorbeilaufen die Vase vom Regal, und sie landete mit einem hellen Geräusch auf dem Boden und zerbarst in Splitter.
    Mom hatte gerade gekocht. Sie fuhr herum, riss die Arme hoch. Verdammt noch mal, Sheryl, sagte sie. Das war das einzig Schöne, das ich in meinem Leben je hatte!
    Tuffy war schuld!, schrie Sheryl und rannte raus.
    Mom hob den Arm vor ihr Gesicht und begann wütend zu weinen. Ich machte Anstalten, die Scherben aufzufegen, aber sie sagte, ich solle sie liegen lassen, und klang dabei so todtraurig, dass ich lieber Sheryl nachlief, die in ihrem üblichen Versteck hinter dem Hühnerhaus hockte. Als ich sie fragte, warum sie mir die Schuld zugeschoben hatte, starrte sie mich hasserfüllt an und sagte: Weil du weiß bist. Ich habe ihr nichts von dem, was sie damals tat, nachgetragen, und wir standen einander später sehr nahe. Das war auch gut so, denn ich habe nie geheiratet und brauchte jemanden, dem ich mich anvertrauen konnte, als sich vor fünf Jahren meine biologische Mutter bei mir meldete.
    Bis zu dem Tod meiner Eltern lebte ich in einem Anbau neben dem winzigen Haus. Sie starben kurz hintereinander, wie es langjährige Ehepaare öfter tun. Innerhalb weniger Monate. Meine Brüder und meine Schwester hatten damals schon das Reservat verlassen oder waren in

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