Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Haus des Windes

Das Haus des Windes

Titel: Das Haus des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Erdrich
Vom Netzwerk:
begann leise zu murmeln, und Angus drückte mir ein gefaltetes Blatt Papier in die Hand. Eine Reihe von vorgegebenen Antworten und die Hymnentexte waren darauf abgetippt. Mein Blick blieban Father Travis kleben. Ich sah ihn natürlich nicht zum ersten Mal, hatte ihn mir aber nie genauer angeschaut. Die Jungs nannten ihn Pokerface wegen seines ausdruckslosen Gesichts. Bei den Mädchen hieß er Pater Schade-drum, denn seine Augen leuchteten über schnulzentauglichen Wangenknochen. Seine Haut hatte diese für Rothaarige typische milchige Blässe und war bis auf einen Strang von Narbengewebe, das sich grell seinen Hals hochschlängelte, makellos. Er hatte eng anliegende, kleine Ohren, einen sparsam eingekerbten, ernsten Mund und militärisch kurzes, fuchsfarbenes Haar, das sich über den Schläfen lichtete, aber in der Mitte zu einer Spitze vorsprang. Wenn er sprach, zeigte er nicht die Zähne, und sein kantiges Kinn blieb regungslos, so dass sich von seinem ganzen Gesicht nur die Lippen bewegten, durch die sich die Wörter hindurchzuwinden schienen. In dem Moment machte mich die mechanische Regelmäßigkeit seiner Züge, in denen nur der unermüdliche, schlitzförmige Mund sich regte, so schwindlig, dass ich mich setzen musste. Ich war noch geistesgegenwärtig genug, meinen Zettel fallen zu lassen und so zu tun, als würde ich auf dem Boden danach suchen. Angus trat nach mir.
    Mach das noch mal, und ich kotze, zischte ich. Bei der nächstmöglichen Gelegenheit, als sich alle für die heilige Kommunion aufreihten, taten wir so, als wollten wir uns hinten anstellen, verschwanden aber aus der Kirche und gingen rüber zum Spielplatz. Angus hatte eine Kippe dabei. Wir halbierten sie gewissenhaft, und ich rauchte meinen Anteil, obwohl es mich wieder in einen Strudel von Übelkeit stürzte. Ich muss wohl so elend ausgesehen habe, wie ich mich fühlte.
    Ich hol besser mal Cappy.
    Klar, sagte ich. Tu das. Sag, dass ich zu Hause abgehauen bin und dass er Essen mitbringen soll.
    Du bist abgehauen? Angus runzelte die Stirn. Ich war immer der mit der perfekten Familie gewesen – liebevoll, für Reservatsverhältnisse wohlhabend und stabil –, einer Familie, von derman sich nie trennen würde. Jetzt nicht mehr. Sein Blick wurde hart vor Mitleid, und er radelte los. Ich schob mein Fahrrad zu einem Gewirr aus Büschen und dürren Bäumchen mit gemähtem Gras darunter, das die Grenze des Kirchengrundstücks markierte. Dort lehnte ich es an einen Baum und legte mich trotz der Zecken auf den Boden. Ich schloss die Augen. Wie ich so lag, fühlte ich den Sog der Erde unter mir. Es war, als könnte ich die Schwerkraft spüren, die ich mir wie eine Art riesigen geschmolzenen Magneten im Erdinneren vorstellte. Ich spürte, wie er an mir zerrte und mir Kraft raubte. Ich hatte Grenzen überschritten, ein Gebiet betreten, wo nichts mehr Sinn ergab und wo Q die Purpurrobe des obersten Richters trug. Müdigkeit überfiel mich so plötzlich wie ein Ohnmachtsanfall, und ich nickte ein. Dann weckten mich die Vibrationen von eiligen Schritten. Ich öffnete die Augen und starrte auf senkrecht aufragenden schwarzen Stoff, bis hoch zu einem hölzernen Kreuz und zu Father Travis’ Gürtelband. Von hoch oben, über seinem steifen Torso, seinem breiten Brustkorb und der Klippe seines Kinns, leuchteten unter geraden Lidern seine farblosen Augen auf mich herab.
    Auf dem Spielplatz ist Rauchen verboten, sagte er. Eine der Nonnen hat euch gesehen.
    Ich öffnete den Mund, und ein heiseres kleines Geräusch kam heraus. Father Travis fuhr fort.
    Aber in der Messe seid ihr jederzeit willkommen. Und falls ihr euch für den Katechismus interessiert, den unterrichte ich samstags um zehn.
    Er wartete.
    Ich machte wieder irgendein Geräusch.
    Du bist der Neffe von Clemence Milk …
    Plötzlich kehrte sich der Sog der Schwerkraft um, und ich setzte mich, von neuer Entschlossenheit und Energie erfüllt, kerzengerade auf. Ja, sagte ich. Clemence Milk ist meine Tante.
    Jetzt fand ich erstaunlicherweise meine Beine wieder. Ichstand auf. Ich ging sogar einen Schritt auf den Priester zu, einen kleinen Schritt nur, aber auf ihn zu. Eine Formulierung meines Vaters kam aus meinem Mund. Dürfte ich Sie etwas fragen?
    Schieß los.
    Wo waren Sie, fragte ich, am Nachmittag des fünfzehnten Mai zwischen drei und sechs?
    Was war das für ein Tag? Sein ernster Mund zuckte an den Enden.
    Ein Sonntag.
    Da habe ich wahrscheinlich Gottesdienst abgehalten, ich weiß es nicht genau. Und

Weitere Kostenlose Bücher